Älteste, Jugendliche und Visionssuche

Älteste brauchen es in ihre fast vergessene Rolle hinein initiiert zu werden, und Jugendliche brauchen es nicht observiert zu werden, sondern vielmehr wirklich gesehen zu werden.

Meredith Little

Im Sinne der oben zitierten Aussage von Meredith Little, kann eine Visionssuche den so genannten Ältesten sowie den jungen Leuten in zweierlei Weise zu Gute kommen. Die Visionssuche kann nämlich nicht nur als Initiationsverfahren ins „Ältesten-Sein“, bzw. als Initiationsverfahren für junge Leute ins Erwachsensein dienen, es sind eben auch gerade die Ältesten, die bei der Initiation von jungen Erwachsenen eine wichtige Rolle spielen. Umgekehrt heißt es in einer Weisheit der Maya Nation, dass ältere Menschen „bitter“ werden, wenn sie nicht von jüngeren gefüttert werden. Damit ist natürlich nicht unbedingt physische Nahrung gemeint, sondern vielmehr ein „In Anspruch genommen werden“. Diese beiden sozialen Gruppen brauchen einander also und sind im Sinne eines gesunden Sozialwesens eng miteinander verbunden.

Doch was ist eigentlich mit dem fast vergessenen Begriff, bzw. mit der sozialen Gruppe der „Ältesten“ gemeint?

Zunächst mal sind Älteste nicht einfach nur alte Leute über 60, denn mit dieser Gruppe ist es wie mit den Erwachsenen: viele Menschen werden zwar vom Alter her erwachsen, psychisch, geistig und / oder sozial jedoch nie. Ebenso werden viele von uns zwar alt, jedoch werden nicht alle Älteste. Die Ältesten stellen also in dem Sinne keine Altersgruppe dar, sondern viel mehr einen wünschenswerten Reifegrad.

Im naturpsychologischen Entwicklungs-Modell der Vier Schilde werden Vertreter/innen dieses Reifegrades der letzten Phase der Norden-Qualität zugeordnet. Den Norden betreten wir ja quasi als Lehrlinge, sind danach für lange Zeit wie Gesell/innen, um es erst zum Ende hin zu einer Art Meisterschaft bringen zu können. Älteste werden zudem einem Zwischenbereich zugeordnet, da sie gewissermaßen noch mit einem Bein in der Norden-Qualität und mit dem anderen schon in der Osten-Qualität stehen und somit keiner der Richtungs-Qualitäten voll angehören. Deshalb werden sie auch „Ahnen in Ausbildung“ oder auch „Die Stimme der kommenden Generationen“ genannt. Wegen der leichteren Unterscheidung werden die Ältesten jedoch gerne dem Osten zugeordnet, damit sich die vier definierten sozialen Gruppen in den vier Himmelsrichtungen wieder gegenüberstehen können.

Älteste haben für gewöhnlich die spezifischen Erwachsenen-Aufgaben erfüllt. Die eigenen Kinder sind schon erwachsen und stehen auf eigenen Beinen, für viele Winter wurden Lebensmittelüberschüsse erwirtschaftet, um damit dem Fortbestand der Gemeinschaft zu dienen. Nun haben Jüngere diese Aufgaben übernommen bzw. wurde sie an Jüngere abgegeben, sodass die Ältesten diese Sorge nicht länger zu tragen haben. Bestimmte Verhaltensweisen von Vertreter/innen der anderen drei sozialen Gruppen sind den Ältesten aus eigener Erfahrung bekannt, verständlich und nachvollziehbar. Doch jetzt können sie dies ohne den früheren Ernst, ohne das schwere Gewicht der Verantwortung auf ihren Schultern, aus Abstand betrachten.

Sie haben die Süden-Phase ihres Lebens ebenso wie die Phase des Westens und des Nordens durchlebt und reflektiert. Jetzt können sie aufgrund dieser Lebenserfahrung entspannt und mit einer gewissen Milde auf die Jüngeren schauen und bei wichtigen Entscheidungen oder in persönlichen Krisen zu Rate gezogen werden.

Wenn wir die Jahreszeiten eines Menschenlebens betrachten, so fällt auf, dass diese vierte soziale Gruppe mit sehr spezifischen Aufgabenzuschreibungen heutzutage leicht außer Acht gelassen wird. Neben den Kindern, den Jugendlichen/Adoleszenten und den Erwachsenen gab es immer auch die Gruppe der Ältesten. Diese hatten, bis ihre Rolle vor gar nicht so langer Zeit demontiert wurde, auch in europäischen Gesellschaften eine hoch angesehene soziale Position und wichtige Funktion inne. Alte Menschen verbringen ihre letzten Jahre heutzutage in, vom öffentlichen Leben weitgehend abgeschotteten Alters- oder Pflegeheimen bzw. in altengerechten Wohnanlagen. Angesichts einer Kultur in der Jugend und äußerliche Schönheit gehyped wird, möchte sich niemand mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontieren, indem sie in alten und gebrechlichen Menschen, wie in einen Spiegel schauen.

In einer Betrachtung des griechischen Philosophen Philon, die später wieder in der Anthroposophie Rudolf Steiners aufscheint und auf astrologischen Beobachtungen beruht, vollziehen sich wesentliche lebensbiographische Entwicklungen und Reifungsprozesse in Sieben-Jahres-Schritten. Diese Betrachtung kann als eine ungefähre Landkarte dienen und erklärt uns, dass bestimmte Entwicklungsschritte und Lebensthemen für bestimmte Lebensphasen typisch sind, auch wenn sie in der individuellen Wirklichkeit ein Jahr früher oder später deutlich werden.

Die Sieben-Jahres-Schritte korrespondieren mit dem Saturnzyklus, denn der Planet Saturn bewegt sich astrologisch gesehen in Zeitabschnitten von etwas mehr als sieben Jahren.

Nach dieser Betrachtung verbringen wir während unserer Entwicklung in jeder Himmelsrichtungs-Qualität der Vier Schilde zwei mal sieben Jahre und stehen also mit 56 Jahren, bzw. wenn wir den tatsächlichen Saturnzyklus zugrunde legen, der ja in 7 1/3 Jahresschritten vorwärtsschreitet, mit 59 Jahren, zum zweiten Mal vor dem Tor zum Süden. Wir stehen also vor dem Tor, durch das wir anfangs per Geburt, die erste Reise unseres Lebens antraten und das uns jetzt zur sog. zweiten Reise des Lebens einlädt. Wir haben jetzt einmal „full circle“ gelebt und werden durch die sich gleichzeitig ereignende Wiederkehr des Saturns geprüft, ob wir genug gereift sind, genug gelernt haben und wirklich bereit sind, jene zweite Reise sinnvoll anzutreten. Wir haben jetzt nämlich (idealtypischer Weise) die schwerste Verantwortung des Nordens an Jüngere übergeben und uns Raum für die zweite Reise geschaffen.

Die zweite Reise ist eine entwicklungspsychologische Metapher, die in vielen Kulturen bzw. Religionen bekannt ist. Sie ist das Fana der Moslems, nachdem sie Taubah erfüllt haben, somit eine fest umrissene Persönlichkeit geworden sind. Sie ist die Pilgerschaft oder Einsiedelei (Vanaprastha) der Hindus nach der Geburt des ersten Enkelkindes, sie ist der zweite Teil der Odyssee in der Ilias von Homer.

Für diese zweite Reise musste Odysseus nach seiner Rückkehr nach Ithaka gemäß einer Weissagung zum Festland übersetzen, ein Ruder über die Schulter legen und solange landeinwärts wandern, bis ihn jemand fragen würde, was er denn mit jener Schaufel auf seiner Schulter vorhabe. Welch schöne Metapher dafür, dass wir für die zweite Reise so lange nach innen gehen müssen, bis die Dinge der Küste bzw. der Äußerlichkeit als solche nicht mehr erkannt werden.

An dieser Stelle musste Odysseus einen Stier, einen Widder sowie einen mutigen Eber opfern, um später König von Ithaka werden zu können. Wieder eine wunderbare Metapher, da diese Tiere für genau jene – eher egogetriebenen – Kräfte stehen, die Odysseus brauchte, um sich als jüngerer sowie zorniger Mann und Krieger in Troja und während seiner abenteuerlichen Irrfahrten durchzusetzen und seine Ziele zu erreichen. Um jedoch ein guter König zu werden, der seinem Volk und nicht mehr Ruhm und Ehre, oder mit heutigen Worten, seiner Karriere, Selbstverbesserung oder Selbstbereicherung dient, muss er diese ungestümen Kräfte opfern. Nur so ist es ihm möglich, all jenes, was er im Leben gelernt hat und geworden ist, zum Wohle seines Volkes einzusetzen.

Wir lernen auf der zweiten Reise uns anheimzustellen, uns mit allem, was wir geworden sind und gelernt haben, einem größeren Willen und einer größeren Sache zu unterstellen und hinzugeben. Wir werden, wenn es gut läuft, zu Ältesten. Dies ist ein heiliger Vorgang, der sehr individuell verläuft.

Ob ein Mensch seine zweite Reise angetreten hat, oder im Alter immer noch nach Identität, Ansehen oder Beachtung sucht, kann jedenfalls als Kriterium dafür dienen, ob jemand für das Ältesten Sein bereit ist. Einem Menschen der sich erkennbar auf der zweiten Reise seines Lebens befindet, öffnet sich das Herz der Jüngeren leicht und voller Vertrauen. Ihm vertrauen sie sich eher mit ihren großen Fragen an, als jemandem der offensichtlich selber noch in die 10 000 Dinge der ersten Reise verstrickt ist.

Nicht wenige sind auch nach der großen Zäsur im Alter zwischen 56 und 59 Jahren noch mit Themen der ersten Reise des Lebens beschäftigt und werden es eventuell auch bis zum Ende ihres Lebens sein. Sie beschäftigen sich weiterhin mit den Fragen „Wer bin ich und was ist eigentlich meine Aufgabe?“, oder damit, weiterhin vor sich herzuschieben, Strukturen zu erschaffen, die der Erfüllung dieser Aufgabe gedient hätten. Auch Odysseus wird nachgesagt, dass es ihm besser geschmeckt hätte, noch einmal eine Expedition zusammenzustellen, ein neues Schiff auszurüsten, um noch einmal in See stechen zu können, die Meerenge von Gibraltar zu passieren und auf den großen Ozean hinaus zu segeln. Stattdessen ins Landesinnere zu wandern zu einem, aus seiner Sicht wahrscheinlich eher weniger reizvollen Bauernvolk, dass sein Tal noch nie verlassen hatte, muss einem Abenteurer und Helden wie ihm eine bittere Pille gewesen sein. Und so sind auch viele von uns heutigen Menschen im Alter von etwa 56 bis 59 Jahren verlockt, z.B. noch einmal eine Firma aufzubauen, statt jetzt einmal in sich zu gehen und eine Expedition nach innen anzutreten. Mit 59 Jahren könnte jedenfalls noch einmal eine ebenso weite Reise vor uns liegen, wie die, die wir in dem Außen und das Weltliche unternommen haben, nur dass es diesmal nach innen geht.

Wahr ist hingegen auch, dass so wie wir uns in unseren modernen Gesellschaften im Alter von 14 Jahren meist noch nicht beruflich bewähren dürfen, für die meisten von uns im Alter zwischen 56 und 59 Jahren auch nicht exakt die zweite Reise des Lebens beginnt, obwohl es der erste ideale Zeitpunkt dafür wäre. Der Prozess des Aufbruchs zu jener zweiten Reise indes wird in diesem Alter ausgelöst, wird mit der zweiten Wiederkehr des Saturns noch einmal angefeuert und findet oft erst mit dem Beginn des beruflichen Ruhestands seine Erfüllung.

Rainer Maria Rilke drückt dies in einem Gedicht, wie immer trefflich, so aus:

Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden.

Aus ihnen kommt mir Wissen, dass ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie der Baum,

der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.

Rainer Maria Rilke

 

In traditionellen Gesellschaften kam den Ältesten eine Aufgabe mit typischer Osten-Qualität zu. Waren nämlich die Vertreter/innen der Norden-Qualität damit beschäftigt für ihre Gemeinschaft Halt gebende und ordnende Strukturen zu schaffen und zu erhalten, war es die Aufgabe der Ältesten, die Erwachsenen zu hinterfragen, durch Fakten aus ihrem Erfahrungsschatz und einem Fundus überlieferter Geschichten zu frustrieren oder deren Einlassungen durch paradoxe Interventionen auf den Kopf zu stellen.

Älteste sind im Lebensrad deshalb aus einer anderen Perspektive den Meister/innen der verschiedenen spirituellen Traditionen vergleichbar. Gurus oder Zen-Meister/innen sind dafür bekannt, dass sie sich immerzu bemühen, die Konzepte zu frustrieren, die Erwachsene sich darüber zurechtgelegt haben, wie die Welt und das Leben eben ist und zu laufen hat. Aus eigener Erfahrung wissend, dass solche Konzepte oft übertrieben streng, viel zu reglementierend und kontrollierend oder veraltet und lebensfern geworden sind und manchmal seit vielen Jahren nicht mehr überdacht, werden ihre Schüler/innen mit irrationalen Aufträgen betraut und mit paradoxer Intervention verwirrt.

Erscheint es zunächst verrückt und fühlen sich viele zunächst auf den Arm genommen, wenn sie z. B. mit einem Korb Wasser holen sollen, so verfolgen solche Meister und Meisterinnen doch ein wichtiges und sinnvolles Ziel. Sind einem Kandidaten, einer Kandidatin nämlich erstmal die veralteten Konzepte und Vorstellungen um die Ohren geflogen, wird Raum für die Freiheit ganz unvoreingenommen auf das sich tatsächlich ereignende „Jetzt“ und die neuen Anforderungen der im gegenwärtigen Moment gegebenen Situation zu schauen.

Ältesten bzw. Meister und Meisterinnen kam somit die typische Osten-Qualität der Erneuerung zu, die vom Sterben und Loslassen lebt und aus der Öffnung gegenüber dem Ungewissen, bzw. Nichtwissen und Überraschenden, geboren wird. Diese Qualität stellte sicher, dass auf die aktuellen Herausforderungen immer angemessen und zeitgemäß reagiert werden konnte und auch, dass so etwas wie Hoffnung auf den unvorhersehbaren Faktor nicht verloren ging.

Auch das Wort „Respekt“, das vom lateinischen „re spectare“ (etwas wieder neu sehen) kommt, hat ebenfalls diese Osten-Qualität. Wir verlieren ja den Respekt voreinander, wenn wir uns immerzu durch die Brille des Gewesenen und Bisherigen betrachten und nicht mehr sehen können, wer jemand genau in diesem Moment ist. Gegenseitiger Respekt gegenüber der Verschiedenheit und dem ständigen Werden und Wandel in einer Gemeinschaft gewährleistet Vielfalt. Vielfalt war schon immer eine evolutionäre Voraussetzung zum Überleben. Ebenso ist es mit „Vorstellungen“, die wir uns von jemanden oder einem anderen Ereignis machen: Im wahrsten Sinne des Wortes stellt sich eine „Vorstellung“ vor eben jenes, was sich gerade tatsächlich ereignet, sodass wir es nicht mehr sehen können. So sind dann unsere Einschätzungen der Situation durch eine Wirklichkeitstrance bestimmt, die uns vorgaukelt, die Welt sei so, wie wir glauben das sie ist. Eine Gemeinschaft vor solch gefährlicher Stagnation zu bewahren, war Aufgabe der Ältesten.

Diese stetig erneuernde Kraft ist uns in erheblichem Maße durch die soziokulturelle Demontage der Rolle der Ältesten verloren gegangen. Ein Grund für die allseits beklagte, immer größer werdende Überflutung des Alltags mit Verordnungen und Verwaltungsakten ist mit Sicherheit darin zu suchen, dass es niemanden mehr gibt, der die dafür Verantwortlichen offiziell und öffentlich auslachen darf. In früheren Gesellschaften waren Älteste in dem Sinne ein Regulativ, dass die Erwachsenen sich in einer Art vorauseilender Vorsicht Mühe gaben, ja keinen Anlass für deren Spott zu liefern. Heute sind der wichtigen Norden-Qualität, in ihrem Bestreben alle gesellschaftlichen Abläufe zu kontrollieren und zu verregeln, von der ebenso wichtigen Osten-Qualität her kaum noch soziokulturelle Grenzen gesetzt.

Zu den Aufgaben und Rollen der Ältesten zählte auch, eine dritte Instanz im Prozess des Erwachsenwerdens zu sein. Jugendliche und Adoleszente müssen zunächst mal ihre Erwachsenenidentität, ihren eigenen Standpunkt in und zu der Welt entwickeln. Dazu gehört es, immer wieder die durch die Altersgruppe der Erwachsenen gesetzten Grenzen zu übertreten. Die Erwachsenen wiederum müssen diese Grenzen setzen und auf Übertritte reagieren. Erwachsensein heißt an dieser Stelle, jenes Standing zu haben, das einem ermöglicht, an gewissen Punkten „Nein“ zu sagen, auch auf die Gefahr hin, dass unsere Kinder oder andere Schutzbefohlene uns dafür auf unbestimmte Zeit ablehnen werden.

Diese ersten beiden am Prozess des Erwachsenwerdens beteiligten Instanzen sind in zweierlei Hinsicht befangen und überfordert, sich gegenseitig oder selbst in der erforderlichen Weise dort hindurch zu begleiten. Einerseits müssen sie sich in beschriebener Weise aneinander reiben und andererseits sind in der dazugehörigen Loslösung zu viele Emotionen im Spiel. Eltern wird zudem ein eigener Übergangsprozess aufgezwungen, der sie mit der Lebensphase nach der Kindererziehung konfrontiert. Eltern lassen oft nur ungern von ihren Kindern und auch diese mögen den schmerzhaften Schritt nicht tun, da sie einerseits nicht verletzen wollen und andererseits ja nicht zuletzt auf liebgewordene Privilegien verzichten müssten.

In traditionellen Gesellschaften hat es in diesem Prozess deshalb immer eine dritte Instanz gegeben, die Ältesten, die emotional unbeteiligter waren und weder parteiisch für die eine noch für die andere Seite in das soziale Geschehen des Übergangs eingreifen konnten. Sie stehen den jungen Leuten, die in der Westen-Qualität verortet sind, in der Osten-Qualität ausgleichend gegenüber und haben es leichter als die Erwachsenen, sich auf sie zu beziehen. Die Ältesten saßen, bildlich gesprochen, immer schon am Rande des Dorfplatzes zusammen und beobachteten das soziale Geschehen. Ihnen entging es nicht, wenn ein junger Mann oder eine junge Frau „soweit war“ und es Zeit für deren Initiation ins Erwachsensein wurde.

Sie traten dann vor das Haus der Eltern und verlangten die Herausgabe des Kindes oder entführten es, um es an geheimen Orten durch ein Initiationsverfahren zu führen. Von dort brachten sie die jetzt jungen Erwachsenen zurück in die Gemeinschaft und pflegten zu behaupten, dass sie die Kinder, die vor ein paar Tagen ihr zuhause verließen, dort draußen in der Wildnis nicht mehr haben finden können und dass sie dort wohl gestorben seien. Anstelle dieser Kinder hätten sie aber junge Erwachsene gefunden, die um Aufnahme in die Gemeinschaft bitten würden. Die Initianten wurden dann feierlich aufgenommen, erhielten neue Namen und es war verboten, ihre Kindernamen je wieder zu benutzen.

Die dritte Instanz war eine sinnvolle soziale Einrichtung, die den ersten beiden Instanzen half, den schmerzhaften Schnitt der Loslösung von einander in Würde zu setzen. Heutige gesellschaftliche Phänomene wie „Hotel Mama“, „erlernte Hilflosigkeit“ oder das „Peter-Pan-Syndrom“ waren undenkbar und kamen so nicht vor.

Aus dieser besonderen Position heraus ist ein Segen, den ein Ältester / eine Älteste ausspricht für die Empfänger besonders bedeutungsvoll. Deshalb ist einen Segen zu spenden oder zu verweigern eine der wichtigen und originären Aufgaben der Ältesten einer Gemeinschaft.

Dabei ist keine Fachlichkeit mehr von Nöten. Ein Ältester / eine Älteste bei den Steinmetzen z.B. würde nicht mehr darauf schauen, ob ein Kandidat den Hammer fachmännisch richtig benutzt (was Aufgabe der verantwortlichen Erwachsenen wäre), sondern darauf, mit welcher inneren Haltung der Hammer gehalten und geführt wird.“

Ältesten, egal aus welchem beruflichen, kulturellen oder religiösen Hintergrund, schauen durch alle eventuellen und äußerlichen Regelwidrigkeiten hindurch, auf das Herz eines Menschen, auf die innere Haltung und können zuweilen mit nur einem Blick oder einer Geste zum Ausdruck bringen, was sie davon halten, was sie sehen.

Wegen all dieser unverzichtbaren Funktionen der Ältesten, ist es nachvollziehbar, dass Menschen sich dann am Wohlsten und Sichersten fühlen, wenn sie, neben der eigenen, noch weitere Generationen im sozialen Umfeld wahrnehmen können. In unserem kollektiv unbewussten Erinnern ist seit zigtausend Jahren eingeprägt, dass z.B. keine Kinder und Jugendliche mehr wahrzunehmen, auf längere Sicht, das elendige Ende des Volkes bedeuten würde. Fehlen die Erwachsenen, fehlt es an Maß und Struktur, weshalb alles in einem Chaos untergehen würde. Fehlt es an Ältesten, dann ist die Geschichte und die Weisheit des Volkes verloren und gibt es keine ausgleichende Kraft mehr, weshalb alle Torheiten und Fehler noch einmal begangen werden müssen. Aus dem alten Stammwort für den Geschichtenerzähler eines Dorfes „Whisdor“, entwickelten sich später die englischen Wörter wisdom und history, also für Weisheit und Geschichte.

Zusammenfassend kann gesagt werden:

Ältester*Älteste wird man nicht durch das bloße Überleben der ersten 60 Jahre, so wie man auch nicht mit 18 Jahren automatisch erwachsen ist.

Älteste leben bewusst und vorbildlich, sie pflanzen damit die Samen eines guten Lebens in die Herzen der Jüngeren.

Älteste ernennen sich nicht selbst, sondern werden, über ihre eigene Bereitschaft für diese Rolle hinaus, als solche von jüngeren Menschen wahr- und in Anspruch genommen.

Älteste brauchen somit die Bestätigung, bzw. Ermächtigung diese Rolle spielen und diese Haltung einnehmen zu können, durch ihre soziale Umwelt. Dies ist letztlich erst durch ein ordentliches Initiationsverfahren, wie z.B. einer Visionssuche oder einem Verfahren das sich die „Entbindung vom Norden“, nennt und am Eschwege Institut, bzw. in dessen Weiterbildungsakademie Campus Peregrini praktiziert wird, möglich.

Junge Menschen brauchen es, dass man ihnen wirklich zuhört, wozu initiierte Älteste am besten fähig sind, da sie über eventuelle Regelwidrigkeiten hinweg auf das Herz sehen können. Sie werden dadurch, als dritte Instanz, auch zu guten Vermittlern zwischen Jungen und Erwachsenen und stellen die Idealbesetzung bei der Leitung von Jugendvisionssuchen dar. Junge Menschen die sich gesehen fühlen entwickeln eine Wertschätzung für die Gemeinschaft, sowie für die Kultur dieser Gemeinschaft. Diese Wertschätzung führt fast automatisch zu dem Wunsch, diese Gemeinschaft schützen und deren Kultur bewahren zu wollen.

Wir alle tun uns, gesellschaftspolitische gesehen also keinen Gefallen damit, wenn wir unsere Jugendlich lediglich ängstlich observieren und unsere Ältesten nicht durch eine ordentliche Initiation ermächtigen Älteste zu sein.

 

Text. Holger Heiten (stark verkürzter Auszug aus dem Buch „Mitte, mitten in uns“ von Holger Heiten, das Ende 2025 erscheinen wird)

An Männer, die über eine Visionssuche nachdenken
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