Essay: Die heilige Wunde

„Ring the bells that still can ring, Forget your perfect offering. There is a crack in everything, That’s how the light gets in.“

Rumi

Irgendwann im Leben werden wir alle damit konfrontiert, dass es persönliche Wunden gibt, die evtl. nicht mehr heilen werden. Genauso werden wir mit Projekten sowie überkommenen Glaubenssätzen konfrontiert, wie z.B. immer für Harmonie sorgen zu müssen, die wir in unserem Leben nicht mehr umsetzen werden und die ohnehin von Anfang an unrealistisch waren. Wir werden herausgefordert die uneingelösten Schecks, auf denen Worte wie Liebe, Nähe oder Anerkennung stehen, die wir meist seit unserer Kindheit hochhalten und verlangen, dass sie doch noch eingelöst werden, zu zerreißen und dann unser Leben zu dem Preis anzunehmen, zu dem wir es bekommen haben. Wir werden vom Leben im positivsten Sinne gedemütigt, wir werden herausgefordert zu kapitulieren und den Stolz loszulassen, es alleine und kraft unseres Willens und Könnens schaffen zu wollen. Wenn wir tatsächlich den inneren Thron unserer Königlichkeit besteigen, zählt keine Ausrede mehr, wir hätten ja noch so viel Unerlöstes in unserem Gepäck und wir werden mit dem Inhalt und trotz des Inhalts dieses Rucksacks, so versehrt und gebrochen, wie wir eben noch sind, unser Leben in die Hand nehmen.

Es braucht verständlicherweise eine Weile, bis wir die Schönheit in solch herausfordernden Prozessen erkennen können.

Die japanische Wabi-Sabi-Ästhetik, die sich vor dem Hintergrund des Zen-Buddhismus des 16. Jahrhunderts entwickelte, kennt eine besondere Wertschätzung menschlicher sowie dinglicher Fehlerhaftigkeit und Zerbrochenheit, die z.B. in der traditionellen Reparaturmethode Kintsugi zum Ausdruck kommt. Im Kintsugi werden zerbrochnene Keramik– oder Porzellanbruchstücke mit Urushi-Lack geklebt, oder fehlende Scherben mit einer in mehreren Schichten aufgetragenen Urushi-Kittmasse ergänzt, die häufig mit Gold-, Silber- oder Platinpulver vermischt werden. Anstatt die Schäden zu verstecken, werden sie betont, wodurch das reparierte Objekt eine charakteristische Ästhetik erhält.

Im Loslassen des Stolzes, es selber schaffen und heilen zu wollen, ja zu müssen, ist im Grunde schon angelegt, auch unsere Scham dafür es nicht geschafft zu haben, oder diesen Bruch, diesen Riss, wie einen Makel zu haben, loslassen zu können.

Was, wenn wir zu erkennen lernten, dass diese Risse und Brüche uns ausmachen, dass es eben jene „Cracks“ sind, wo hindurch das Licht hereinkommt und wir so, wie wir sind, versehrt, zerbrochen und weiterhin verletzlich, genau richtig sind. Dann würden auch wir die Bruchstellen als „Aufbrüche“ sehen, die Risse und Narben als Charakteristikum und wir würden die Bruchstücke unseres Lebens mit dem Gold der Wertschätzung und dem Silber der Selbstachtung wieder zu einem neuen Ganzen zusammenfügen.

Neben all den heilbaren Wunden, sind in dem großen, das Soziale, den Geist und die Seele mit umfassenden Ökosystem des Lebens, offensichtlich auch Verwundungen vorgesehen, die niemals heilen werden und deren Auswirkungen auch mit den trefflichsten Methoden nur abgemildert werden können. Solche Wunden werden seit je her als „heilige Wunden“ beschrieben. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass uns, indem wir ein Leben lang versuchten sie zu heilen, ganz bestimmte Stärken oder Fähigkeiten zuwachsen, die wir ohne sie nie entwickelt hätten.

Wie das gemeint ist, wird wunderbar an der Geschichte von Chiron sichtbar, dem Halbbruder des Zeus in der griechischen Mythologie. Ihm wurde eine nie heilende Wunde zugefügt. Da er nicht wusste, dass eine Heilung unmöglich war, bemühte er sich ein Leben lang darum und besuchte sämtliche Ärzte, Kräuterfrauen, Geistheiler und Schamanen im Land, die ihm aber ja alle nicht helfen konnten. Dies führte jedoch nach einiger Zeit dazu, dass man, wenn jemand eine schlecht heilende Wunde hatte, sagte: „Gehe zum Chiron, denn der weiß alles über schlecht heilende Wunden!“. Als ihm bewusst wurde, welche Gabe ihm durch seine Verwundung zugewachsen war, wuchs er über sie hinaus und konnte aufhören, sich als ein Opfer seiner Verwundung zu definieren und dankbar für sie werden. Immerhin hatte seine Wunde ihn mit der Zeit zum besten Wundarzt seiner Zeit gemacht. Einen guten Arzt hervorzubringen war auch genau die göttliche Absicht, als ihm die Wunde zugefügt wurde.

Wenn wir uns also redlich bemüht haben eine unserer Wunden zu heilen und wir damit einfach nicht weiterkommen, geht es irgendwann darum zu lernen, mit dieser Wunde zu leben, ja vielleicht sogar wie Chiron, aufzuhören uns als ihr Opfer zu definieren, sondern dankbar für sie zu werden. Letzteres wäre die Folge der Frage danach, welche besondere Kraft oder Gabe uns durch unser „Verwundet-sein“ und „Heil-werden-wollen“ zugewachsen ist. Es geht dann eine gewisse Würde davon aus, wenn wir unser Leben einfach zu dem Preis annehmen können, zu dem wir es bekommen haben.

Warum halten wir dennoch so lange an dem Wunsch oder Willen fest, solche Wunden heilen zu wollen. Sind wir inzwischen mit unserem Verwundet-Sein und dem Heilen-Wollen so sehr identifiziert, dass wir jetzt befürchten müssten nicht mehr zu wissen wer wir sind, wenn wir dies losließen? Kommt es für uns eventuell auch überhaupt nicht in Frage, den oder die Verursacher/in der Wunde aus ihrer Schuld zu entlassen und müssen deshalb in der Opferhaltung bleiben? Manchmal ist es schlicht ein Projekt unseres Egos geworden, mit einer alten Wunde fertig werden zu wollen und es ist dann unser Ego, das uns daran hindert zu kapitulieren. Es gibt wahrscheinlich eine Unzahl an Problemen, die uns aus solchen Gründen als unüberwindbar oder unlösbar erscheinen, bis wir bereit sind loszulassen, es alleine und kraft unseres Willens und Könnens schaffen zu wollen. Wer hat es nicht schon mal erlebt, dass sich in dem Moment in dem wir loslassen, plötzlich eine Lösung zeigt? Für manche Probleme ist sogar überhaupt erst das Loslassen die Lösung.

Bei solchem Loslassen oder Kapitulieren hat sich das sog. 12 Schritte Programm bewährt. Besonders die ersten drei Schritte dieses in den 1930´er Jahren von William Griffith Wilson und Robert Holbrook Smith, ursprünglich zur Unterstützung von Alkohol-Kranken entwickelten Programmes, lohnt es sich hierbei in Betracht zu ziehen:

  1. Anerkennen, dass man seinem eigenen Problem gegenüber machtlos ist.
  2. Zum Glauben kommen, dass nur eine Macht, die größer als man selbst ist, die eigene geistige Gesundheit wiederherstellen kann. Ursprünglich wurde hier für „Macht, größer als man selbst“ das Wort „Gott“ eingeführt. Um die Gruppen aber auch nichtreligiösen Personen zu öffnen, wählte man die neue Formulierung.
  3. Den Entschluss fassen, seinen Willen und sein Leben der Sorge Gottes, oder eben jener Macht, die größer als man selbst ist, anzuvertrauen.

Zwar wäre in diesem Programm, mit Schritt 6, „Die Bereitschaft, Verhaltensweisen, die das Leben behindern, von Gott entfernen zu lassen“ und Schritt 7, „Demütig darum bitten, dass Gott sämtliche persönliche „chronische das Leben behindernde Verhaltensweisen“ beseitigt“, die Hoffnung geweckt, dass es doch noch zur Heilung einer bestimmten Wunde kommt, doch sich der Sorge Gottes anzuvertrauen bedeutet etwas Anderes. Wer, wie im dritten Schritt, den Entschluss fasst, seinen Willen und sein Leben der Sorge Gottes anzuvertrauen, muss lernen dieser Sorge auch dahingehend zu vertrauen, dass es in der heiligen Ordnung einen Sinn haben könnte, dass unsere Verwundung bestehen bleibt, ganz so, wie es in der Geschichte vom Chiron war.

Eine andere Frage, die hier mitschwingt ist die nach dem, was wir nicht in die Welt bringen, solange wir uns noch erzählen und glauben, dass wir dies erst tun könnten, wenn jene alte Wunde geheilt, wenn ein bestimmtes Verhaltensmuster verlernt, oder eine bestimmte Fähigkeit erworben ist, kurz, wenn wir befinden endlich gut genug dafür zu sein.

Wir sind königlich, unabhängig davon, wie versehrt oder gebrochen wir noch sind. Der heiligen Ordnung ist es egal, wieviel Ungelöstes wir noch in unserem Rucksack haben, wenn wir nur endlich unseren Thron der Selbstverantwortlichkeit besteigen.

Am Ende erfordern all unsere Gaben eine gewisse Kühnheit, um sie ins Leben zu bringen. Es ist wie mit unseren Liebesbeziehungen, in denen wir erst lernen in Liebesbeziehung sein zu können. Wollten wir damit warten, bis wir uns eine 100% Beziehungsfähigkeit attestieren können, würden wir wohl nie eine haben.

So gibt es also einzigartige Gaben, die wir durch unser Sosein und per Seelenauftrag mit in die Welt bringen und solche, die uns durch das Arbeiten an unseren heiligen Wunden erwachsen. Die einen können durch die Auswirkungen alter Verwundungen verstellt sein und müssen von uns freigelegt werden, die anderen wachsen uns durch solch alte Wunden erst zu. Beide Arten von Gaben sind unser Geschenk an das Leben, beide sind gewollt und werden in einer ökosystemartigen Ordnung, gebraucht.

Dies wirft auch ein neues und ergänzendes Licht auf die Idee einer heiligen Ordnung, die offensichtlich nicht erst dann hergestellt ist, wenn alle an ihrem Platz erklingen und von ihrem Leid befreit sind. Dies wäre wohl eher das allzu menschliche Bild von einem Paradies. Es gehört nämlich zu ihr, dass wir zwischenzeitlich vergessen wer wir sind und eben jene heimsuchenden und sehnsüchtigen Kräfte auf uns einwirken müssen, die letztlich alles Getrenntsein aufheben wollen und uns beständig wachsen lassen. Wir sind in all dem ununterbrochen jene Farbtupfer oder Mosaiksteine, die zusammen das Antlitz Gottes ergeben.

Einer meiner wichtigsten Mentoren zum Beispiel, wird nahezu jede Nacht von schrecklichen Alpträumen gequält, die ihn seit seiner traumatischen und von häuslicher Gewalt geprägten Kindheit verfolgen und pflegt morgens zu sagen: „I´m not OK, but that´s OK“. Jeden Morgen zerreißt er die uneingelösten Schecks seiner Kindheit aufs Neue und versucht dann jeden einzelnen Tag der beste Mensch zu sein, der er sein kann. Er sagt: „Wenn mir etwas fehlt bin ich nicht heil, mir fehlt aber nichts“. Es geht hier um eine Art Einverständnis mit dem was ist, um die Einsicht, dass dieser Augenblick, dieses einzigartige Jetzt, das beste Jetzt ist, dass wir haben können. Wenn es diesen Augenblick nur zusammen mit einem Schmerz, oder einem Gefühl der Niedergeschlagenheit zu haben gibt, dann ist er immer noch der beste den wir haben können, denn es macht überhaupt keinen Sinn, sich einen besseren Augenblick zu wünschen. Wenn wir lernen, mit dem was ist, einverstanden zu sein, fehlt uns nichts und sind wir heil.

Wenn wir erlauben, dass das was ist, sein darf, wenn selbst Schmerz und Entstellung zu uns gehören dürfen und uns sowie diesen Augenblick ausmachen, dann sind wir einverstanden. Egal wie weit wir uns zuvor noch von uns selbst entfernt fühlten, wenn wir einverstanden werden, befinden wir uns augenblicklich wieder auf unserem ureigentlichen Standpunkt in der heiligen Ordnung, von dem aus wir in die Tiefe mit einem allverwobenen Leben verbunden und zugleich ein einzigartiger Ausdruck dieses All-einen sind.

So bleibt die uralte spirituelle Zusage aller religiösen Lehren weiterhin wahr und bestehen, dass wir nämlich in jedem Augenblick gerade erst ankommen und schon zuhause sind, dass wir schon jetzt geliebt und gut genug sind, dass wir immer schon alles haben was wir brauchen und dafür nichts tun müssten und auch noch nie hätten tun müssen.

Es erscheint jetzt eventuell paradox, aber es ist letztlich dieses Verständnis der heiligen Ordnung, dass uns erst ermöglicht unsere Gabe wirksam geben zu können, denn schon der bloße Gedanke, wir könnten oder jemand anderes könnte der Gnade und Liebe Gottes nicht würdig sein, erzeugt bereits Unheil. Dies ist auch auf der Ebene einer rein säkularen Welt wahr, wenn es heißt, wir seien nicht gut genug, nicht kompatibel, nicht weiß oder schwarz genug oder zu irgendwas, um der Liebe wert oder zugehörig zu sein.

Essay: Give your gift!