Essay: Die mystische Mitte

Die Mystik beschreibt Momente, in denen das Göttliche oder All-Eine der Mitte, den Menschen berührt und ihn seine alles durchdringende Gegenwart erfahren lässt. Da solche Erfahrungen bereits in allen Epochen und Religionen gemacht wurden, verbindet die Mystik die Menschen verschiedener Religionen oder spiritueller Lehren.

Ich weiß nicht, was ich bin,

ich bin nicht, was ich weiß;

ein Ding und nit ein Ding,

ein Pünktchen und ein Kreis.

 Angelus Silesius (1624 – 1677, schlesischer Theologe und Mystiker)

Ein Pünktchen und ein Kreis zu sein, ist das Wesentlichste was Angelus Silesius über sich auszudrücken vermochte und hat damit zugleich eine universelle Ausdrucksweise dessen ausgesprochen, wer oder was wir sind. Der Punkt im Kreis symbolisiert die mystische Mitte, der Kreis darum, das Leben, die Welt oder die Umstände, worin diese Mitte, Mitte ist.

„Durch eine Art geheimen Anhauch gewahrt man deutlich, dass es Gott ist, der unserer Seele Leben gibt. Dieser Anhauch ist oft so stark, dass überhaupt nicht daran zu zweifeln ist. Die Seele fühlt es genau. Gott weilt in ihrem Innersten, in der aller innersten Mitte, in einer Tiefe, die man nicht beschreiben kann.“

„Wer Gott sucht, braucht keine Flügel. Er soll nur still in sein Inneres schauen. Dort wird er ihn finden. Das Innere des Menschen ist wie ein Kristall, in dessen Mitte Gott wie eine alles durchdringende Sonne wohnt. Das Tun des Menschen wird nicht wirksam, wenn seine Taten nicht aus dieser Mitte stammen.“

„Wer sich Gott nähert und sich mit ihm verbindet, wird ein Geist mit ihm. Es ist dann, als weilte die Seele nicht mehr im Leibe. Da ist nur noch Geist. Diese geheimnisvolle Vereinigung vollzieht sich in der aller innersten Mitte der Seele, dort, wo Gott selber weilt.“

Teresa von Avila (1515 – 1582, spanische Karmelitin und Mystikerin)

Joseph Campbell (1904 – 1987), Professor am Sarah Lawrence College in New York und Autor auf dem Gebiet der Mythologie, beschreibt die mythologische, bzw. in diesem Fall die mystische Mitte in seinem berühmten Interview mit Bill Moyers anhand der Erfahrung einer prophetischen Vision, die „Black Elk“ („Schwarzer Hirsch“ 1863 – 1950), einer der letzten großen spirituellen Lehrer der Lakota-Nation, im Alter von 9 Jahren machte:

Ich sah mich auf dem Berg in der Mitte der Welt, der höchsten Stelle, und ich hatte eine Vision, denn ich schaute die Welt auf heilige Art. Und der heilige Berg in der Mitte war der Harney Peak in Süddakota.“ Und dann sagte er: “Doch der Berg in der Mitte ist überall.“

Campbell hebt diesbezüglich die mystische Erkenntnis Black Elks hervor, zwischen einem lokalen Kultbild, hier dem Harney Peak, und seiner Konnotation als Zentrum der Welt zu unterscheiden. Denn das Zentrum der Welt sei ja die axis mundi, der Mittelpunkt, der Pol, um den sich alles dreht. Campbell beschreibt den Mittelpunkt der Welt als die Stelle, wo Ruhe und Bewegung zusammenfallen. Bewegung sei Zeit, aber Ruhe sei Ewigkeit. Diesen Augenblick des Lebens tatsächlich als einen Augenblick der Ewigkeit zu erkennen und das Ewige in dem, was man im zeitlichen Geschehen tut, zu erleben – das sei die mythologische, aus meiner Sicht aber eben eine mystische Erfahrung.

Wenn wir anschauen, was Black Elk weiterhin über diese Mitte sagen konnte, wird die Gegenwart einer Universalie spürbar. Er beschreibt sie als

„… leuchtenden Punkt, in dem sich alle Linien schneiden …

und an anderer Stelle sagt er, „Gott hat keinen Umkreis“,

was mit einer Definition Gottes korrespondiert, wie sie Voltaire einst formulierte:

Gott ist ein Kreis, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umfang nirgends liegt.

Es ist vielleicht noch wichtig zu wissen, dass Black Elk nur Lakota und kein Englisch sprach und ihm eine Bildung, die ihm die Gedanken eines Voltaire nähergebracht hätten, nie genossen hat.

Im Interview mit Bill Moyers sagt Campbell zum Verständnis der mystischen Mitte weiter wörtlich:

Und dieser Mittelpunkt, Bill, ist genau dort, wo Sie sitzen. Und der andere ist genau dort, wo ich sitze. Und jeder von uns ist eine Manifestation dieses Geheimnisses. Dies gibt einem in gewisser Weise eine Ahnung davon, wer und was man ist. Was damit gesagt wird, ließe sich auch in einen rohen Individualismus übersetzen, wissen Sie, wenn man nämlich nicht merkt, dass der Mittelpunkt auch im Gegenüber, in der anderen Person ist. Dies hier aber ist die mythologische Art, ein Individuum zu sein. Man selbst ist der Berg in der Mitte, und der Berg in der Mitte ist überall.“

Dieses Verständnis spiegelt sich auch in einer der zentralen Aussagen jüdisch/christlicher Theologie wider, als Moses Gott im brennenden Dornbusch begegnet und ihn bittet sich ihm vorzustellen. In der Übersetzung durch Martin Buber, bekommt er folgendes zur Antwort:

Ich bin da, wo Du bist.

  1. Buch Mose, 3;14

 So symbolisiert die mystische Mitte nicht nur die heilige Art ein Individuum, eine gesunde Person zu sein, sondern auch das Göttliche in uns und überall.

Als ich 18 Jahre alt war, machte ich selber eine meiner mystischen Erfahrungen. Gute Freunde hielten mit mir meine erste Rebirthing-Sitzung ab. Hatte ich anfangs noch erklärt, dass so etwas bei mir sicher nicht funktionieren würde, so war ich nach weniger als 10 Minuten des gezielten Atmens schon zu einer inneren Welt durchgebrochen, die mich nachhaltig beeindrucken sollte.

Rebirthing ist eine von Leonard Orr begründete Technik des zirkulären Atmens. Man überschreitet bei dieser pausenlosen Atem-Technik einen Punkt, den man nur durch das ermutigende Zureden eines Begleiters erreicht und hinter dem plötzlich jede Kontrolle über das, was man erfährt, aufhört. Ich erlebte es wie einen Durchgang in eine andere, jedoch merkwürdig vertraute Wirklichkeit und fand mich körperlos anwesend an einem Ort wärmsten Lichtes.

Ich wusste, dass ich mich in meinem eigenen Innersten befand. Das warme Licht, welches den Ort erfüllte, war reine, grenzenlose Liebe, die mich wohlig umhüllte. Ich nahm in diesem Innenraum zugleich ein unendliches Potential wahr. Alle Antworten auf alle Fragen, alles, was man je in der Lage ist zu wissen oder zu können, war hier schon angelegt, unbegrenzt und universal. Es war wunderschön, sich durch diesen Raum zu bewegen und von dieser Vollkommenheit zu kosten, gebadet im Licht der Liebe.

Nach einer Weile kam ich an eine Begrenzung, so als ob ich von innen an eine diesen Kern umschließende Eierschale stieß. Da ich körperlos war, konnte ich sie mühelos durchdringen, um zu schauen, was wohl auf der anderen Seite sein würde. Zu meinem Erstaunen war ich auf der anderen Seite der Schale in meine normale und bekannte Wirklichkeit zurückgekehrt, in das Außen und zu meinen Freunden. In diesem Augenblick überkam mich eine Erkenntnis, die mich zutiefst erschütterte und mich lange aus tiefstem Herzen weinen ließ:

Mir wurde klar, dass alles, was lebt, über einen solchen wundersamen Kern verfügt, nein, wundersamer noch, dass es sich dabei immer um ein und denselben Kern handelt. Gleichzeitig erkannte ich, dass jeder Mensch um diesen Kern herum eine verschieden dicke Schale aufgebaut hat. Gerne umgibt man sich mit Menschen, deren Schale dünn und noch durchlässig für jenes innere Licht ist. Andere Menschen erscheinen einem dagegen weniger strahlend, sogar kalt und abweisend. Ich war erschüttert und weinte darüber, wie schnell ich mit meinem Urteil gewesen war, wie sehr ich von der äußeren Schale eines Menschen auf seine inneren Qualitäten geschlossen hatte und wie wenig ich davon verstanden hatte, dass in allen Wesen, in allen Menschen ein königlicher, ein göttlicher Kern liegt, der sie ur-eigentlich ausmacht.

Ein Jahr zuvor hatte ich bei meiner spirituellen Lehrerin Hilde Uden bereits erleben dürfen, wie es ist, wenn jener königliche oder göttliche Kern angesprochen, gesehen und somit erweckt wird. Jetzt hatte ich noch einmal tiefer erfahren, wie dieser beschaffen ist und wie sich meine Haltung zum Leben verändern kann, wenn ich mir seiner gewahr bin.

Jahre später, in den frühen 90ern, als ich mich eine Weile in der Findhorn Gemeinschaft in Schottland aufhielt, erlebte ich eine wundersame Phase, in der ich mich jenem göttlichen Kern in allem und jedem näher fühlte als je zuvor. Dies waren die Auswirkungen eines heilsamen Dominoeffekts, den ich so bereits bei meiner spirituellen Lehrerin erlebt hatte.

Er fängt damit an, dass man Menschen begegnet, die sich weigern, etwas anderes in einem zu sehen als nur das Göttliche, Schöne oder Königliche. Menschen, die durch alle Äußerlichkeiten hindurch sowie über alle vermeintlichen Makel und Regelwidrigkeiten hinweg, nur an dem Wesentlichen in einem interessiert sind und mit diesem in Kontakt treten wollen. Sobald der Wesenskern auf diese Weise in Anspruch genommen wird, sich angesprochen und gemeint fühlt, erwacht er in so manchen erst. In vielen von uns schlummert das Göttliche, Schöne oder Königliche ja noch, weil es sich bisher noch nie angesprochen, wirklich gemeint oder gesehen fühlte und im langen Warten darauf eingeschlafen ist.

Der Dominoeffekt wird dadurch ausgelöst, dass, sobald unser Wesenskern erwacht, es dieser ist, der durch unsere Augen in die Welt schaut. Es entsteht ein vollkommen anderer Blick und auch die jetzt wahrgenommene Wirklichkeit ist eine andere. Schaut das Göttliche, Schöne oder Königliche durch unsere Augen, können wir plötzlich das Göttliche, Schöne oder Königliche auch in allem anderen erkennen.

„It takes one to see one“ sagt man im Englischen, oder „If you spot it, you got it“ und es ist eine wahrnehmungspsychologische Binsenweisheit, dass wir in unserer Wirklichkeit nie etwas anderes erblicken können als uns selbst. In den so von uns Gesehenen erwacht somit ihrerseits das Göttliche, Schöne oder Königliche und beginnt durch ihre Augen zu schauen usw.

Nichts anderes als was ich bin kann ich je erblicken

und immer ist es Gott

Alle Dinge sind einfach wie sie sind

und würde mein Gedanke sie nicht werten

kein Schatten würde je auf meine Seele fallen

Holger Heiten, 1996, Freiburg

Bedauerlicherweise gibt es in vielen von uns Widerstände gegen ein solches Gesehen-werden und funktioniert daher der Dominoeffekt nicht immer. Alte Beschlüsse und Glaubenssätze, die beispielsweise lauten, wir seien der Liebe nicht wert, seien nicht gut genug oder der Gnade Gottes nicht würdig, stellen sich ebenso dagegen wie eine Heerschar innerer „loyaler Soldat/innen“. So nennt der amerikanische Tiefenpsychologe Bill Plotkin jene unbewussten Strategien, die dazu dienen, solche Beschlüsse durchzusetzen.

Während meiner damaligen Zeit in Findhorn wirkte der Dominoeffekt jedenfalls bei mir. Das hatte sicherlich mit der grundsätzlich wertschätzenden und liebevollen Haltung zu tun, die schon zu dieser Zeit in der Findhorn Gemeinschaft kultiviert wurde.

Ich konnte damals das Göttliche, das All-Eine in wirklich allem erkennen. Ich konnte es in jedem einzelnen Blatt einer Laubhecke, an der ich gerade vorbeiging, wahrnehmen. Ich sah Menschen an und wusste zutiefst um ihren göttlichen Kern. Gleichzeitig erblickte ich manchmal etwas in ihren Augen, das wie ein nebelhafter Schleier wirkte, von dem ich spürte, dass er den inneren Widerständen gegen ein solches Gesehen-werden entsprach. Andere dagegen waren bereit und erstrahlten augenblicklich, wenn ich ihnen so begegnete. Diese Begegnungen gerieten zu einem wahren Fest der Liebe und Freude, der Freude von Menschen, die auf ihrer langen Suche nach Gott endlich fündig geworden waren, nämlich in sich selbst, in der eigenen innersten Mitte und dann in allem um sie herum. Zu leben, zu atmen, zu empfangen und zu geben, es zu teilen und zu vermehren, war ein einziger Genuss. Dies ist die Art, wie man eine ansteckende Gesundheit verbreitet.

Eine solche Erfahrung der Mitte, hat über die ordnende Wirkung auf uns selbst hinaus, also auch eine solche auf unsere Gemeinschaften und auf ganze Kulturen, wie z.B. die der Japaner oder die der Tibeter, bei denen die eigene und die Mitte der Gemeinschaft zu pflegen, zentrale Elemente ihrer Kultur sind. Aber auch in der jüdisch/christlichen Mystik gibt es diesen größeren Zusammenhang:

… Gemeinschaft „entsteht nicht dadurch, dass Leute Gefühle füreinander haben (wiewohl freilich auch nicht ohne das), sondern durch diese zwei Dinge: dass sie alle zu einer lebendigen Mitte in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen. Das zweite entspringt aus dem ersten, ist aber noch nicht mit ihm allein gegeben. Lebendig gegenseitige Beziehung schließt Gefühle ein, aber sie stammt nicht von ihnen. Die Gemeinde baut sich aus der lebendig gegenseitigen Beziehung auf, aber der Baumeister ist die lebendig wirkende Mitte …

Martin Buber

Ja, es wird jetzt schon spürbar welche Aussagekraft in dem Symbol von Kreis und Mitte liegt und auf welche wundervollen Zusammenhänge es hinweist. In meinem neuen, jedoch z.Zt. noch unveröffentlichten Buch „Kreis und Mitte, mitten in uns“, lade ich uns dazu ein, diesbezüglich mal an einer bestimmten Stellen in die Tiefe zu gehen. Wir werden zuerst den Kreis und dann die Mitte erforschen, um dann auf der anderen Seite wieder aufzutauchen und all die oben genannten Zitate in eventuell neuer Tiefe verstehen können.

Text: Holger Heiten, Auszug aus seinem noch unveröffentlichten Buch „Kreis und Mitte, mitten in uns“

18. Mai, Online-Coffee-Morning für Männer, die sich für Männerarbeit interessieren