Alles was wir tun können, ist von der Bremse zu steigen

Moderne, das heißt für heutige Menschen einer westlichen Kultur aufgearbeitete Übergangs-Rituale, wie etwa die Visionssuche, werden auch als Gang über den Friedhof der persönlichen Mythen bezeichnet. Sie werden als modernes Ritual der Transformation verstanden. Damit wird jedoch all zu leicht die menschliche Hybris befeuert, die da behauptet, wir könnten Wachstum tun, machen oder steuern, indem wir dazu an einem bestimmten Ritual teilnehmen. Das Leben führt uns jedoch immer wieder vor Augen, dass alles, was wir diesbezüglich wirklich tun können, darin besteht, von der Bremse zu steigen.

Wer sich einmal mit der Naturpsychologie von Wachstumskrisen beschäftigt hat, bekommt ein Verständnis für das zyklische Verlaufsmuster von Wachstums- und Übergangsprozessen in der Natur. Da auch wir Natur sind, vollziehen sich solche Verlaufsmuster auch in uns, nur, dass wir oft den neuesten Status dieser Prozesse nicht so recht wahrhaben wollen. Zu viel Identität hängt an den bereits zerfallenden Selbstbildern, so, dass wir manchmal schier verzweifelt an ihnen festhalten.

Der Weg echten persönlichen Wachstums führt jedoch zwingend über den schon erwähnten „Friedhof der persönlichen Mythen“ und immer wieder durch eine Phase, in der wir weder wissen, wer wir jetzt sind, noch wohin zu gehen von hier aus Sinn macht. Die für die Überwindung der Krise Ausschlag gebende Frage: „Wer bin ich jetzt?“, kann jedoch erst wieder gestellt werden, wenn wir von der inneren Bremse steigen, die in der Verleugnung oder Ignoranz von Veränderungen besteht, die unsere innere Natur längst vollzogen hat.

Das ist, was wir wirklich tun können. Wir können lernen, die neueste Wahrheit über uns tiefer zu verstehen, sie so ehrlich wie möglich zu benennen und dann zu lernen, damit einverstanden zu sein.

In dem wir das tun, kommen wir endlich da an, wohin der Wandlungsprozess unserer inneren Natur sich längst entwickelt hatte. Jetzt, da dieser Prozess nicht mehr länger auf uns warten muss, kann sich unser Rad der natürlichen Wandlung endlich wieder wie ein altes Mühlwerk knarzend in Bewegung setzen. Es sind jedoch weder wir, die dieses Rad drehen, noch können wir steuern, was dabei herauskommt – es ist unsere Natur, die das tut. Es ist das Rad, das sich dreht, nicht wir tun es!

Deshalb können die Visionssuche und alle anderen Übergangsriten immer nur Rituale der Konfirmation, also der Bestätigung der neuesten Wahrheit über uns selbst sein, eine Bestätigung der transformatorischen Prozesse, die sich in uns bereits vollzogen haben. Es wäre aus unserer Sicht unseriös, etwas Anderes zu versprechen.

Ein gutes Übergangsritual zeichnet sich dadurch aus, dass die Teilnehmenden in einer intensiven Vorbereitungsphase darin angeleitet werden, sich so ehrlich und genau wie möglich auf dem Rad des Lebens neu zu verorten. Die so erfasste neueste Wahrheit über sich selbst sollte dann in die Erarbeitung eines „Bestätigungssatzes“ münden, eines kurzen prägnanten Kraftsatzes, der die immer wiederkehrende Frage: „Wer bin ich jetzt?“, erneut beantwortet.

Indem wir mit einem solchen Satz fastend in die für Visionssuchen charakteristische viertägige Solo-Zeit in der Natur eintreten, lassen wir zugleich auch alles Nachdenken über das Gewesene zurück – alles Weitere liegt jetzt nur noch vor uns, wie in einem unbekannten Land. Das Rad der stetigen Wandlung wird sich in uns wieder weiterdrehen und wir werden vielleicht eine Vision, eine erste Idee davon erhalten, wohin die Reise gehen und was als nächstes zu tun sein wird.

Moderne Riten werden niemals eingesetzt, um eine Wandlung, die noch gar nicht vollzogen ist, herbeizuführen. Dies würde einem Beschwörungsritual und damit dem Glauben an eine magische Wirkung von Riten gleichkommen.

Auszug aus dem Buch „TRANCE UND CHANCE“ von Holger Heiten, bitte nicht unautorisiert weiterverwenden

 

 

Niemand ist so klug wie wir alle zusammen – Die Erfahrung des Kreises. von Holger Heiten, erschienen in der OYA 22/2013
Der Mensch in der Krise – Ein Interview mit Gesa Heiten