Das Wunder ist, wenn wir nichts dagegen unternehmen

Essay

Das Wunder ist,
wenn wir nichts dagegen unternehmen

Aus der Welt des Tantra gibt es das leicht nachzuvollziehende Osho Zitat:“ Nähe ist, wenn man nichts dagegen unternimmt“. Die Ängste, Traumen, Identifikationen sowie vom Ego getriebenen Kräfte und Vorstellungen, die in der Nähe/Distanz Thematik als jenes zum Tragen kommt, was wir gegen echte Nähe unternehmen, unterscheiden sich jedoch kaum von dem, was wir beständig gegen die bewusste Wahrnehmung von etwas unternehmen, was wir gerne als Wunder bezeichnen.

Gemeint sind jene wundersamen Ereignisse oder Erfahrungen, in denen sich eine all- oder interverbundene Wirklichkeit offenbart, in der wir uns als nur eine Faser erkennen, die jedoch zugleich mit allem und jeden, durch alle Zeiten und Räume hindurch sowie mit dem Urgrund oder der Quelle von all dem, verbunden ist.

Wir alle kennen Momente, in denen die Zeit plötzlich stillzustehen scheint und wir uns seltsam mit allem und allen verbunden fühlen. Momente tiefen inneren Friedens, in denen wir sicher wissen, dass wir geliebt sowie jetzt und immer am richtigen Ort sind und mit den richtigen Menschen das Richtige tun. Wir treten an einen Strand und das Rauschen und Wogen des Meeres sind uns plötzlich und unvermittelt wie das uralte Wiegenlied allen Lebens, das wir dann merkwürdigerweise in diesem Augenblick durch alle Zeiten und Räume hindurch selber sind. Wir hören eine Musik und fühlen uns seltsam mit Ereignissen und Orten verbunden, die wir selber nie erlebt, oder öffnen uns für ein Wissen, dass wir selber nie erlernt haben. In wunderbaren Orgasmen verschmelzen wir mit unserem Partner oder unserer Partnerin und wissen für ewige Augenblicke, dass wir nur die Finger ein und derselben Hand sind, die sich gerade berührten. Wir schauen uns an, wissen oder spüren es gleichzeitig und lachen.

Geben uns solche Seins-Erfahrungen, jenseits von allem, mit dem wir uns ansonsten identifizieren, Einblicke in das, wer wir wirklich und ureigentlich sind, oder fallen wir dabei lediglich für kurze abnorme „Aussetzer“ aus unserer wirklichen Wirklichkeit heraus?

Ich gehe davon aus, dass wir in solchen kostbaren Momenten Einblick in das Wunder des Lebens erhalten, dessen allumfassende Dimension uns einfach nicht mehr bewusst ist und dass in Wirklichkeit immerzu ist und beständig mit offenen Armen auf uns wartet.

In meiner Arbeit mit Kraft entfaltenden Ritualen in der Natur, wie etwa der Visionssuche, erlebe ich immer wieder, dass Teilnehmer*innen von einer solchen Erfahrung zurückkehren und von solchen Wundern oder Magie sprechen, die sie erlebt haben. Natürlich freue ich mich für sie und freue mich auch immer für mich selber, wenn ich das Glück hatte wieder am Wunder teilhaben zu dürfen. Meiner Auffassung nach, haben sich jene Teilnehmer*innen während der Visionssuche, jedoch lediglich in einem möglichst großen zeitlichen Freiraum und einem als „sicher genug“ empfundenen, schützenden rituellen Rahmen in der Natur aufgehalten. In diesem Freiraum getrauten sich feinste und hoch sensible Instrumente ihrer Wahrnehmung endlich wieder auf Empfang zu gehen. Diese Instrumente stehen im Grunde jedem Menschen zur Verfügung und was sie wahrnehmen können, hat nichts mit einem Wunder oder gar mit Magie zu tun, sie nehmen schlicht eine größere und feinere Wirklichkeit wahr, die immer um uns ist, nur dass wir sie im Alltag nicht mehr sehen können.

„Das Reich Gottes ist schon über der Erde ausgebreitet, nur die Menschen sehen es nicht.“

Jesus / Thomasevangelium

Für die meisten von uns ist der Alltag so laut und grob, ist die Bilder- und Informationsflut so gewaltig geworden, dass wir es uns nicht mehr leisten können, jene feinsten Instrumente der Wahrnehmung zu aktivieren. Die Wahrnehmung abzustumpfen, wurde uns, meist unbewusst, zur Überlebensstrategie im Alltag. Menschen, die aus großen Städten zu uns ins Eschwege Institut kommen, brauchen manchmal Tage, bis sie den Gesang bestimmter Vögel wieder bewusst wahrnehmen können.

Dass unsere physische und soziale Umwelt, die wir uns als Lebensort geschaffen haben, so wenig dazu passt, wie und wer wir ureigentlich sind, hat mit einer psychischen sowie gesellschaftspolitischen Bedingtheit zu tun, die uns dies vergessen ließ. Vieles von dem lässt sich auf die langsam zu Ende gehende patriarchale und hierarchische Gesellschaftsordnung zurückführen, in der nur deshalb wenige mächtig sein können, weil alle anderen an ihrer Entfaltungskraft gehindert werden. Um in dieser Gesellschaftsordnung dazugehören und funktionieren zu können, glauben wir, uns von der Verbundenheit mit allem Zarten in uns selbst, von unseren Bedürfnissen, unserer Körperlichkeit und somit letztlich auch von unserer Verbundenheit mit der Erde auf der wir leben, abschneiden zu müssen. Dies ist die perfide Weise, wie wir die Unterdrückung unserer eigenen Entfaltung, die in hierarchischen Systemen nötig ist, an uns selber vornehmen.

Da leben Menschen, leben schlecht und schwer, in tiefen Zimmern, bange von Gebärde, geängsteter denn eine Erstlingsherde; und draußen wacht und atmet deine Erde, sie aber sind und wissen es nicht mehr.

Rainer Maria Rilke

In unserer Selbstvergessenheit und durch all die uns einhüllenden Schutzpanzer voneinander scheinbar isoliert, leben wir in ständiger Sorge um uns selbst. Wir leben in Angst vor einem Außen, dass uns nur deshalb als so bedrohlich erscheinen kann, weil wir auch nach innen und zur Tiefe hin keinen Zugang mehr zu dem pflegen, was wir weiter oben als All- oder Inter-verbundenheit bezeichnet haben. Derart verängstigt, besorgt und isoliert verhalten wir uns nicht mehr, wie wir uns natürlicherweise verhalten würden.
Wir haben Angst vor einander, vor Nähe und vor morgen. Gleichzeitig haben wir Angst davor, nicht geliebt zu werden, keine Nähe zu erfahren und dass sich die Mikroorganismen, aus denen unsere Körper ja zu mehr als der Hälfte besteht, gegen uns wenden, wir krank werden und sterben müssen.
Vieles, womit wir unsere kostbare Zeit auf Erden verbringen, hat mit dem vergeblichen Versuch zu tun, uns von den natürlichen Bedingungen des Lebens und Sterbens zu emanzipieren
und uns abzusichern sowie unsere natürlich gegebene Umwelt in einen scheinbar sicheren Ort zu verwandeln. Inzwischen finden wir uns jedoch als Sklaven in einem großen lieblosen Gefängnis wieder, das wir uns für unser vermeintliches Freiwerden selber erschufen.

Wer jetzt gänzlich vergäße, wer wir wirklich und ureigentlich sind, wer außer Acht ließe, dass wir vom Ureigentlichen nur verstellt und deshalb so verworren sind, und wer aus der Distanz nur darauf schaute, wie wir uns benehmen oder miteinander sowie mit unserer Umwelt umgehen, dem oder der wäre es sicherlich schwer uns besonders lieb zu haben.
Und andererseits braucht es manchmal nur ein schönes Wochenende mit lieben Menschen, das gemeinsame Erleben schöner Musik oder der großen Natur und die Erinnerung daran oder zumindest eine Ahnung davon, was Menschsein bedeutet, was für feine und liebenswerte Wesen wir sind, kommt zurück. Kaum fällt die alltägliche Bedrückung von uns ab, fassen wir uns wieder an den Händen und lachen.

Es ist so leicht sich in hinderlichen Identifikationen und oberflächlichen Problemen der alltäglichen Welt zu verlieren und zu vergessen, wer wir in der Tiefe unter all dem wirklich sind. Der Alltag mit seinen Verpflichtungen, Sorgen und unzähligen Angeboten sich in etwas zu versteigen, kann unsere Herzen und unseren Geist schnell verengen und lässt uns leicht die schier unfassbare spirituelle Dimension unseres Hierseins sowie das Geschenk, sie erleben zu dürfen, vergessen.

Was die zu Ende gehende patriarchale Gesellschaftsordnung angeht, so ist es geradezu subversiv, sich ab und zu daran zu erinnern, wer wir wirklich und ureigentlich sind. In dieser Zeit großer Umbrüche, die mit Herausforderungen für uns alle einhergeht, ist es wichtig uns immer wieder gegenseitig daran zu erinnern, sowie auch daran, welche Bedingtheit uns von uns selber so entfremdete, damit wir wieder zu uns und nachhause, bzw. in unsere Mitte finden können.

Die turbulenten Zeiten, die vor uns liegen sind, wie Eileen Caddy, die Mitbegründerin der Findhorn-Gemeinschaft, es in einer ihrer späten Eingebungen gesehen hat, wie ein Tumbleweed, also wie einer dieser kugelförmigen Büsche, die in Westernfilmen immer durch die Prärie geweht und gewirbelt werden. Sie sah, wie alles was sich in dessen Peripherie befand, durch die Schleuderkraft nach außen und fort geschleudert wurde und nur jenes, was sich in dessen Mitte halten konnte bestand hatte.

Um uns in unserer Mitte halten zu können ist es wichtig nicht zu vergessen wer wir sind, nämlich all- oder interverbunden und zugleich der ganz individuelle Ausdruck dieser Allverbundenheit. Wir sind nichts weniger als eine Ausdrucksform des Göttlichen, ein einzigartiger Stein im Mosaik, das das Antlitz Gottes ergibt.

Lasst uns gerade, die oft gar nicht so besinnliche Weihnachts- und Raunächte-Zeit, die jetzt vor uns liegt, dazu nutzen, nicht mehr das Fehlerhafte und Unzulängliche, sondern wieder das Schöne, Gute und Liebenswürdige ineinander zu sehen. Lasst uns die Gelegenheit nutzen uns daran zu erinnern, wer wir wirklich sind und uns einander Dinge sagen Wie:

„Es gibt einen Grund warum Du hier bist. Du bist eine einzigartige Blume im Garten das wir das Leben nennen. Du bringst etwas in die Welt, dass niemand sonst bringen könnte. Ohne Deinen Duft, Dein Lied, Deine Farbe, Deine Stimme, wäre die Welt nicht dieselbe. Du hast ein Recht hier zu sein und einen Platz der nur Dir gehört, der immer leer bliebe, würdest Du ihn nicht einnehmen.“

Wenn wir uns so wieder daran erinnern, dass wir geliebt sind, dass wir immer geliebt waren und wir unverbrüchlich dazugehören, dass wir dafür nichts, aber auch Garnichts tun müssen und auch nie hätten tun müssen, dann heben sich die Schleier einer großen Illusion wieder und wir können das Wunder wieder sehen.
Denn da wir jetzt nicht mehr ängstlich so viel dagegen unternehmen müssen, können wir wieder erkennen, dass das Wunder ist. Es ist immer bereits um uns und wartet mit offenen Armen darauf, dass wir nachhause kommen.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine wirklich besinnliche Weihnachts- und Raunächte-Zeit

Herzlichst

Holger Heiten

PS: Der Essay setzt sich z.T. aus Passagen aus meinem im Juli veröffentlichten Buch „Zeit nachhause zu kommen“ zusammen. Bei Interesse findest Du hier mehr Infos dazu:
https://eschwege-institut.de/wir-ueber-uns/empfehlungen/

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