Essay: Die zweite Reise des Lebens

Die zweite Reise ist, wie oben erwähnt, eine entwicklungspsychologische Metapher, die in vielen Kulturen bzw. Religionen bekannt ist und in der europäischen Kultur sehr schön in Homers Ilias, bzw. durch den zweiten Teil der Odyssee beschrieben wird:Odysseus war als zorniger junger Mann zu einer Reise aufgebrochen, während der er 10 Jahre in Troja Krieg führte und weitere 10 Jahre auf der Rückreise herumirrte und Abenteuer zu bestehen hatte. Es ging ihm um Ruhm und Ehre, heute würde man sagen um Karriere und Anerkennung, dabei war er durchaus ein Draufgänger, denn er verlor unterwegs alle seine Männer und kehrte allein und völlig erschöpft nach Ithaka, seiner Heimat, zurück.
Für jene zweite Reise seines Lebens musste Odysseus nach seiner Rückkehr nach Ithaka nicht etwa zu weiteren Abenteuerfahrten in die Welt hinaus aufbrechen, wie viele es in dieser Lebensphase glauben tun zu müssen. Nein, gemäß einer Weissagung, sollte er ein Ruder über die Schulter legen und solange landeinwärts wandern, bis ihn jemand fragen würde, was er denn mit jener Schaufel auf seiner Schulter vorhabe. Welch schöne Metapher dafür, dass wir für die zweite Reise so lange nach innen gehen müssen, bis die Dinge der Küste bzw. der Äußerlichkeit als solche gar nicht mehr erkannt werden.
An dieser Stelle musste Odysseus einen Stier, einen Widder sowie einen mutigen Eber opfern, um später König von Ithaka werden zu können. Wieder eine wunderbare Metapher, da diese Tiere für genau jene – eher egogetriebenen – Es gibt eine Zeit im Leben, in der wir beginnen alles was wir können und geworden sind, nicht mehr für Ruhm und Karriere einzusetzen, sondern in den Dienst einer größeren Sache zu stellen. Dieser Schritt markiert seit je her den Aufbruch zur zweiten und wesentlicheren Reise des Lebens.

Die zweite Reise des Lebens ist eine entwicklungspsychologische Metapher, die in vielen Kulturen bzw. Religionen bekannt ist. Sie ist das Fana der Moslems, nachdem sie Baka erfüllt haben und somit eine fest umrissene Persönlichkeit geworden sind. Sie ist die Pilgerschaft oder Einsiedelei (vanaprastha) der Hindus nach der Geburt des ersten Enkelkindes und in der europäischen Kultur ist sie durch den zweite Teil der Odyssee beschrieben, wie Homer sie überlieferte. Um diese entwicklungspsychologische Metapher besser verstehen und einordnen zu können, lohnt es sich, einmal einen Blick auf Entwicklungsmodelle zu werfen, die die Menschen dafür seit je her entwickelt haben:

Sieben-Jahres-Schritte (Septare), Mondknoten und die Vier Schilde
In der Betrachtung des griechischen Philosophen Philon, die später wieder in der Anthroposophie Rudolf Steiners aufscheint, aber auch aus der Perspektive der Astrologie (Saturnzyklus), vollziehen sich die wesentlichen lebensbiographischen Entwicklungen in Sieben-Jahres-Schritten, die als Septare bezeichnet werden.
Dazwischen werden diese noch alle 18 Jahre, 7 Monate und 9 Tage von sogenannten Mondknoten-Durchläufen angefeuert bzw. eingeläutet.Aus Sicht der Initiatischen Prozessbegleitung handelt es sich bei dieser Betrachtung um eine weitere Orientierungshilfe, um einen Kompass oder eine ungefähre Landkarte, die nicht immer exakt mit dem tatsächlichen Terrain übereinstimmt. Sie erklärt uns manchmal in tröstlicher oder erleichternder Weise, dass bestimmte Entwicklungsschritte und Lebensthemen für bestimmte Lebensphasen typisch sind, auch wenn sie in der individuellen Wirklichkeit erst ein Jahr früher oder später deutlich werden können.

Mit Mondknoten wird in der Astrologie der Umstand beschrieben, dass alle 18 Jahre, 7 Monate und 9 Tage die gleiche Sternen-Konstellation am Himmel zu beobachten ist. Dies gilt natürlich auch für die Konstellation zum Zeitpunkt unserer Geburt. In der Astrologie geht man davon aus, dass Ort und Zeitpunkt unserer Geburt mittels eines Horoskopes Aussagen über unser Sosein und somit auch über unseren Seelenauftrag machen können. Während eines Mondknoten-Durchlaufes liegt der verpflichtende Charakter unseres Seelenauftrages dann quasi wieder in der Luft.
Deshalb wird der Mondknoten oft als mahnende Instanz, bzw. als krisenhafte Zeit erlebt, die uns insbesondere dann schüttelt und rüttelt, wenn wir bezüglich unseres Seelenauftrages eingeschlafen oder weit vom Weg abgekommen sind. Lebenslügen und schlechte Kompromisse halten einem solchen Durchlauf oft nicht stand.
Legen wir all das auf das, für die Initiatische Prozessbegleitung grundlegende Entwicklungsmodell der Vier Schilde, ergibt es ein durchaus sinnvolles Bild, das uns beim Selbstverstehen sowie beim Verstehen derer, die wir begleiten, behilflich sein kann. Grob gesagt verbringen wir in jeder der vier Qualitäten dieses Lebensrades jeweils 14 – also zwei mal sieben – Jahre. Schauen wir uns das einmal genauer an:

Süden

Nach den ersten sieben Jahren im Süden, der Kindheit, ist die grundlegendste Phase in unserer Persönlichkeitsentwicklung vorüber und wir kommen üblicherweise in die Schule. Die ersten Milchzähne fallen aus.
Nach den zweiten sieben Jahren im Süden, mit 14 Jahren, gehen wir durch das Tor der Pubertät. Wir haben alle Milchzähne verloren, unser Gehirn wurde seit dem 12. Lebensjahr komplett auf Effizienz und Lebenstauglichkeit umgebaut und unsere Körper sind bereit. Nie wieder verheilen kleinere Wunden so schnell wie mit 14, nie wieder ist unsere Sehkraft so groß und ertragen wir Hunger oder Kälte, falls notwendig, so sehr wie in diesem Alter. Wir sind bereit, die Welt aus ihren Angeln zu heben, werden geschlechtsreif und verlassen die Kindheit. Die Generation unserer Großeltern trat zu dieser Zeit ins Arbeitsleben ein, in anderen Kulturen wurde und wird im Alter von 14 Jahren geheiratet.

Westen

Nach den ersten sieben Jahren im Westen, mit 21 Lebensjahren, werden wir nach altem Recht, das bei uns noch bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus Gültigkeit besaß, volljährig.

Als Zwischenschritt-Ereignis durchleben wir mit 18 Jahren, 7 Monaten und 9 Tagen unseren ersten Mondknoten, bei dem uns nochmals klar wird, welcher tiefere Impuls, welcher Seelenauftrag uns bewogen hat, auf die Welt zu kommen. Dadurch flammen unsere Ideale mit einem verpflichtenden Charakter auf. Der erste Mondknoten kann auch wie die zweite Geburt verstanden werden. Diese zieht die Loslösung von der Familie und die Frage nach sich, wozu, wofür und um was zu verwirklichen wir frei werden wollen.

Nach den zweiten sieben Jahren im Westen gehen wir (idealtypischerweise) durch das Tor zum Erwachsenwerden.

Norden

Mit 28 Jahren sind wir bereits älter geworden als die Musiker und Schauspieler Janis Joplin, Kurt Cobain, Brian Jones, Jimi Hendrix, Jim Morrison, James Dean und Amy Winehouse, die alle im Alter von 27 Jahren starben und so ewige Jugend-Idole blieben, weil niemand sie hat erwachsen werden sehen.
Das 28. Lebensjahr ist die Zeit großer Entscheidungen und nach den ersten sieben Jahren im Norden haben wir (idealtypischerweise) unsere Familie gegründet uns für einen bestimmten beruflichen Weg entschieden und lassen uns spätestens mit 35 Jahren irgendwo nieder.

Als Zwischenschritt-Ereignis durchleben wir mit 37 Jahren, 2 Monaten und 18 Tagen unseren zweiten Mondknoten, bei dem unsere eigentlichen Ideale wieder neu entflammen. Es wird angemahnt, sie endlich oder tatsächlich zu leben. Dieser Mondknoten-Durchlauf bereitet nicht selten die dann mit etwa 42 Jahren folgende Midlife-Crisis vor, welche bei Männern jedoch meist etwas später einzusetzen scheint.

Osten

Nach den zweiten sieben Jahren im Norden erreichen wir das erste Mal das Tor zum Osten und sind mit 42 Jahren im klassischen Alter der „Midlife-Crisis“. In Folge dessen prüfen wir unser bisheriges Leben daraufhin, ob wir authentisch unserem Weg folgten. Auch die Frage, ob wir noch oder nochmal Eltern werden wollen, drängt sich nun, besonders bei Frauen auf, deren biologische Uhr jetzt immer lauter tickt. Ganz im Thema der Osten-Qualität lassen wir lieb oder verhasst gewordene Dinge los, die uns am Authentisch-Sein hinderten (und hindern) und sterben damit einen kleinen Tod. In dieser Zeit kommt es nicht selten zu Trennungen in der Beziehung, zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses, zum Wechsel des Wohnortes und Ähnliches mehr.
Nach den ersten sieben Jahren im Osten beginnt mit 49 Jahren die Mitte des Ostens. An diesem Punkt kippt die Waage wieder zum Süden hin und wir sind aufgefordert, die zweite Reise unseres Lebens vorzubereiten.

Als Zwischenschritt-Ereignis durchleben wir mit 55 Jahren und nicht ganz 10 Monaten unseren dritten Mondknoten, bei dem wir entlang unserer eigentlichen Ideale sowohl unsere spirituellen als auch unsere zwischenmenschlichen Bezüge auf eine neue Stufe stellen. Ab hier werden der Tod und die Endlichkeit ins Auge gefasst. Der Philosoph und Begründer der Integralen Theorie Ken Wilber sagte einmal, dass die wesentlichen Schritte und Veränderungen bis spätestens 35 gelaufen seien. Es folge daraufhin eine Art Durchführungsphase mit Kindererziehung und/oder Karriere. Interessant werde es erst wieder mit etwa 55 Jahren.

Süden die Zweite

Nach den zweiten sieben Jahren im Osten stehen wir mit 56 Jahren wieder vor dem selben Tor zum Süden, durch das wir anfangs durch Geburt unsere erste Lebensreise begannen. Wir haben die schwerste Verantwortung des Nordens (idealtypischerweise) an Jüngere übergeben, unsere Kinder sind aus dem Gröbsten heraus, wie man sagt und so entsteht Raum für die zweite Reise des Lebens. Unsere Gesellschaftsstruktur beinhaltet, dass wir theoretisch bis 65 oder gar 67 Jahren arbeiten müssen, weshalb mit 56 Jahren oft lediglich ein Prozess beginnt, der uns auf die zweite Reise führt, der uns aber auch die Zeit gibt die wir zur Bewältigung dieses großen Übergangs benötigen.
Die 2. Reise, eine entwicklungspsychologische Metapher am Beispiel der Odyssee
Kräfte stehen, die Odysseus brauchte, um sich als jüngerer Mann und Krieger in Troja und während seiner abenteuerlichen Irrfahrten durchzusetzen und seine Ziele zu erreichen. Um jedoch ein guter König zu werden, der seinem Volk und nicht mehr seiner Karriere, Selbstverbesserung oder Selbstbereicherung dient, muss er diese Kräfte opfern. Nur so ist es ihm möglich, all jenes, was er im Leben gelernt hat, und was er geworden ist, zum Wohle seines Volkes einzusetzen.

Wir lernen auf der zweiten Reise uns anheimzustellen, uns mit allem, was wir geworden sind und gelernt haben, einem größeren Willen zu unterstellen und hinzugeben. Wir sind bereit all dies, bzw. uns in den Dienst einer größeren Sache zu stellen und werden, wenn es gut läuft, zu Ältesten. Älteste zu sein war eine ehemals hochangesehene soziale Rolle, auf die wir auch heute nicht verzichten können und die erst jetzt langsam wieder ins Bewusstsein der Menschen tritt. Diese Rolle gibt der zweiten Reise des Lebens nicht nur dadurch einen Sinn, dass wir den Jüngeren unsere Lebensweisheit zur Verfügung stellen, sondern sie führt uns auch auf unserer persönlichen Reise immer weiter nach innen und zu jenem Zuhause zurück, nach dem wir uns zeitlebens sehnten. Nicht zufällig ist die zweite Reise des Lebens deshalb auch in den verschiedenen Kulturen eine spirituelle Reise, auf der wir zunehmend lernen loszulassen und zuzulassen, dass etwas, dass größer ist als wir und uns doch tief im Inneren ausmacht, übernimmt und wir uns da hinein entspannen können.

Doch nicht alle vollbringen diesen Schritt, der wahre Erfüllung verheißt. Wir werden zwar alle alt, doch nicht alle werden Älteste. Viele Menschen sind, oft aus nachvollziehbaren Gründen, bis zum Lebensende mit den Fragen der ersten Lebensreise beschäftigt und finden für sie keine Antworten. Diese Fragen sind üblicherweise „Wer bin ich?“, „Was ist also meine Aufgabe?“ und schließlich, wenn ich erste Antworten darauf gefunden habe, „Welche Strukturen muss ich auf-, oder abbauen, um dieser Aufgabe nachgehen zu können?“. Die Antworten auf diese Fragen, ändern sich natürlich auch im Laufe des Lebens, doch nur wenn wir sie immer wieder mit jenem tiefen Impuls, mit unserem Seelenauftrag abgleichen, finden wir auch zurück zu unserem persönlichen Ithaka, von wo erst wir zur zweiten Reise des Lebens aufbrechen können.

Es ist wichtig sich irgendwann die Frage zu stellen, welche, inzwischen unangemessen gewordenen inneren Kräfte uns antreiben, ja manchmal uns vor sich hertreiben. Weshalb glauben wir, immer noch mehr erreichen, besser oder noch wichtiger werden zu müssen? Ist es nicht jene zügellose Gier nach immer noch mehr, die uns Menschen zu einem Problem für diesen Planeten gemacht hat? Und steckt dahinter nicht letztlich unsere Angst, so wie Odysseus, nach innen gehen und schauen zu müssen? Müssen wir dort im Inneren den einen Abgrund des Nichts befürchten, oder wartet dort nicht ein Anteil von uns mit offenen Armen darauf, dass wir nachhause kommen?

Wer sich angesprochen fühlt, diesen Fragen einmal nachzugehen und sich mit dem „Aufbruch zur zweiten Reise des Lebens“ zu beschäftigen, findet hier die Infos zu einem gleichnamigen Workshop von uns.

Wer daran interessiert ist, wie sich die Betrachtung der Septare als Entwicklungsschritte nach dem 56. Geburtstag weiterentwickelt, kann das in meinem Buch Chance und Trance im Kapitel „Septare“ nachlesen.

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Essay: Manchmal steht einer auf beim Abendbrot

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