Essay: Der Aufbruch zur zweiten Reise des Lebens

Die verheißungsvolle und zugleich herausfordernde Zeit zwischen „nicht mehr jung“ und „noch nicht alt“ sein

In einer Betrachtung des griechischen Philosophen Philon, die später wieder in der Anthroposophie Rudolf Steiners aufscheint und auf astrologischen Beobachtungen beruht, vollziehen sich wesentliche lebensbiographische Entwicklungen und Reifungsprozesse in Sieben-Jahres-Schritten. Diese Betrachtung kann als eine ungefähre Landkarte dienen und erklärt uns, dass bestimmte Entwicklungsschritte und Lebensthemen für bestimmte Lebensphasen typisch sind, auch wenn sie in der individuellen Wirklichkeit ein Jahr früher oder später deutlich werden.

Die Sieben-Jahres-Schritte korrespondieren mit dem Saturnzyklus, denn der Planet Saturn bewegt sich astrologisch gesehen in Zeitabschnitten von etwas mehr als sieben Jahren.

Nach dieser Betrachtung verbringen wir während unserer Entwicklung in jeder Himmelsrichtungs-Qualität der Vier Schilde zwei mal sieben Jahre. D.H. 14 Jahre in der Süden-Qualität, was mit der biographischen Phase der Kindheit korrespondiert, 14 Jahre in der Westen-Qualität, was mit der biographischen Phase der der Jugendlichen und Adoleszenten korrespondiert, 14 Jahre in der Norden-Qualität, was mit der biographischen Phase des Erwachsenseins korrespondiert und schließlich 14 Jahre in der Osten-Qualität, was mit der biographischen Phase der Reife korrespondiert.

Demnach stehen wir also mit 56 Jahren, bzw. wenn wir den tatsächlichen Saturnzyklus zugrunde legen, der ja in 7 1/3 Jahresschritten vorwärtsschreitet, mit 59 Jahren, zum zweiten Mal vor dem Tor zum Süden. Wir stehen also, aus der Perspektive des Lebensrades der Vier Schilde gesehen, vor dem Tor, durch das wir anfangs per Geburt, die erste Reise unseres Lebens antraten und das uns jetzt zur sog. zweiten Reise des Lebens einlädt.

Wir haben jetzt einmal „full circle“ gelebt und werden durch die sich gleichzeitig ereignende Wiederkehr des Saturns geprüft, ob wir genug gereift sind, genug gelernt haben und wirklich bereit sind, jene zweite Reise sinnvoll anzutreten. Wir haben jetzt nämlich (idealtypischer Weise) die schwerste Verantwortung des Nordens an Jüngere übergeben und uns Raum für die zweite Reise geschaffen.

Die zweite Reise ist eine entwicklungspsychologische Metapher, die in vielen Kulturen bzw. Religionen bekannt ist. Sie ist das Fana der Moslems, nachdem sie Taubah erfüllt haben, somit eine fest umrissene Persönlichkeit geworden sind. Sie ist die Pilgerschaft oder Einsiedelei (Vanaprastha) der Hindus nach der Geburt des ersten Enkelkindes, sie ist der zweite Teil der Odyssee in der Ilias von Homer.

In der Ilias musste Odysseus für diese zweite Reise, nach seiner Rückkehr nach Ithaka, gemäß einer Weissagung zum Festland übersetzen, ein Ruder über die Schulter legen und solange landeinwärts wandern, bis ihn jemand fragen würde, was er denn mit jener Schaufel auf seiner Schulter vorhabe. Welch schöne Metapher dafür, dass wir für die zweite Reise so lange nach innen gehen müssen, bis die Dinge der Küste bzw. der Äußerlichkeit als solche nicht mehr erkannt werden.

An dieser Stelle musste Odysseus einen Stier, einen Widder sowie einen mutigen Eber opfern, um später König von Ithaka werden zu können. Wieder eine wunderbare Metapher, da diese Tiere für genau jene – eher egogetriebenen – Kräfte stehen, die Odysseus brauchte, um sich als jüngerer sowie zorniger Mann und Krieger in Troja und während seiner abenteuerlichen Irrfahrten durchzusetzen und seine Ziele zu erreichen. Um jedoch ein guter König zu werden, der seinem Volk und nicht mehr Ruhm und Ehre, oder mit heutigen Worten, seiner Karriere, Selbstverbesserung oder Selbstbereicherung dient, muss er diese ungestümen Kräfte opfern. Nur so ist es ihm möglich, all jenes, was er im Leben gelernt hat und geworden ist, zum Wohle seines Volkes einzusetzen.

Wir lernen auf der zweiten Reise uns anheimzustellen, uns mit allem, was wir geworden sind und gelernt haben, einem größeren Willen und einer größeren Sache zu unterstellen und hinzugeben. Wir werden, wenn es gut läuft, zu Ältesten. Dies ist ein heiliger Vorgang, der sehr individuell verläuft.

Ob ein Mensch seine zweite Reise angetreten hat, oder im Alter immer noch nach Identität, Ansehen oder Beachtung sucht, kann später jedenfalls als Kriterium dafür dienen, ob jemand für das Ältesten Sein bereit ist. Einem Menschen der sich erkennbar auf der zweiten Reise seines Lebens befindet, öffnet sich das Herz der Jüngeren leicht und voller Vertrauen. Ihm vertrauen sie sich eher mit ihren großen Fragen an, als jemandem der offensichtlich selber noch in die 10 000 Dinge der ersten Reise verstrickt ist.

Nicht wenige sind auch nach der großen Zäsur im Alter zwischen 56 und 59 Jahren noch mit Themen der ersten Reise des Lebens beschäftigt und werden es eventuell auch bis zum Ende ihres Lebens sein. Sie beschäftigen sich weiterhin mit den Fragen „Wer bin ich und was ist eigentlich meine Aufgabe?“, oder damit, weiterhin vor sich herzuschieben, Strukturen zu erschaffen, die der Erfüllung dieser Aufgabe gedient hätten.

Auch Odysseus wird nachgesagt, dass es ihm besser geschmeckt hätte, noch einmal eine Expedition zusammenzustellen, ein neues Schiff auszurüsten, um noch einmal in See stechen zu können, die Meerenge von Gibraltar zu passieren und auf den großen Ozean hinaus zu segeln. Stattdessen ins Landesinnere zu wandern zu einem, aus seiner Sicht wahrscheinlich eher weniger reizvollen Bauernvolk, dass sein Tal noch nie verlassen hatte, muss einem Abenteurer und Helden wie ihm eine bittere Pille gewesen sein.

Und so sind auch viele von uns heutigen Menschen im Alter von etwa 56 bis 59 Jahren verlockt, z.B. noch einmal eine Firma aufzubauen, statt jetzt einmal in sich zu gehen und eine Expedition nach innen anzutreten. Mit 59 Jahren könnte jedenfalls noch einmal eine ebenso weite Reise vor uns liegen, wie die, die wir im Außen und Weltlichen unternommen haben, nur dass es diesmal nach innen geht.

Wahr ist hingegen auch, dass so wie wir uns in unseren modernen Gesellschaften im Alter von 14 Jahren meist noch nicht beruflich bewähren dürfen, für die meisten von uns im Alter zwischen 56 und 59 Jahren auch nicht exakt die zweite Reise des Lebens beginnt, obwohl es der erste ideale Zeitpunkt dafür wäre. Der Prozess des Aufbruchs zu jener zweiten Reise indes wird in diesem Alter ausgelöst, wird mit der zweiten Wiederkehr des Saturns noch einmal angefeuert und findet oft erst mit dem Beginn des beruflichen Ruhestands seine Erfüllung.

Rainer Maria Rilke drückt dies in einem Gedicht, wie immer trefflich, so aus:

Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden.

Aus ihnen kommt mir Wissen, dass ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie der Baum,

der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.

Rainer Maria Rilke

Text: Holger Heiten, Auszug aus seinem neuen noch unveröffentlichten Buchprojekt „Kreis und Mitte mitten in uns“

Achtung: Zu diesem spannenden Thema laden wir alle Interessierte am 19. August um 20:00 Uhr, zu einem Infoabend ein und freuen uns auf einen regen Austausch. In dem Rahmen werden wir auch über einen entsprechenden Workshop unter Segeln im kroatischen Mittelmeer informieren, über den Du Dich hier schon mal informieren kannst.

Online-Infoabend für alle, die am Thema der „zweiten Reise des Lebens“ interessiert sind