Essay: Sehnsucht, Mitte und die Erinnerung daran wer wir sind

Du warst ein Schatz, der verborgen in der Erde liegt, bis du erkennst, wer du wirklich bist.

Rumi

Es wohnt eine große Sehnsucht in uns, bewusst oder unbewusst treibt sie uns an, zieht sie uns, wie eine gespannte Sehne im Körper, die z.B. eine Hand zum Mund zieht, zu dem Ersehnten hin. Aber was ist dieses Ersehnte, wonach sehnen wir uns eigentlich so?

Ist es die erfüllende Liebe zu jenem anderen Menschen, die ultimative sexuelle Erfüllung, oder die Erfüllung irgendeines Wunsches, nach einer besseren beruflichen Position, einem Haus oder einem anderen Ding? Üblicherweise stellen wir, nachdem die Erfüllung solcher Sehnsüchte eingetreten ist, fest, dass es nicht genug war, die Sehnsucht noch nicht erfüllt ist und uns darüber hinaus, etwas noch viel Größeres und weit Wichtigeres zu sich hinzieht. Es ist manchmal schwer dies wahrhaben zu wollen und oft soll uns das ganze Hinterherjagen nach den kleinen Erfüllungen davon ablenken, aber, im Einklang mit den meisten spirituellen Lehren, können wir davon ausgehen, dass wir uns im Grunde nach dem Frieden und Zuhause Sein in uns selbst sehnen und darüber auch in der Verbundenheit mit dem uns alle zusammennehmenden Geist des All-Einen.

Dass von uns Ersehnte liegt nicht im Außen, sondern in der Mitte, mitten in uns. Das Ende aller Sehnsucht ist in der All-Einheit, mit der wir über unsere Mitte verbunden sind und die uns mit der Liebe, die alles Getrenntsein aufheben will, zu sich hinzieht. Und wir müssen gar nicht erst mit ihr verschmolzen sein bevor wir uns beruhigen können. Es reicht zu wissen, wonach wir uns eigentlich sehnen, damit wir aufhören können, den kleinen Sehnsüchten nicht mehr so viel Gewicht beizumessen. Es reicht zu wissen wo unser wahres Zuhause ist, um zu wissen, wer wir sind. Damit ist aber auch schon eines der großen Probleme unserer Zeit angesprochen, nämlich, dass wir vergessen haben wer wir sind!

Dass es uns so schwerfällt, dieser großen Sehnsucht nachzugehen, ist natürlich nichts Neues und war schon immer Gegenstand religionsphilosophischer Auseinandersetzung. Die Bedingungen indes unter denen wir heute leben, stellen eine immer größer werdende Hürde auf dem Weg dar, uns überhaupt erstmal daran zu erinnern, wonach wir uns eigentlich wirklich sehnen und wo also unser wahres Zuhause wäre.

Unsere patriarchale, von Kapitalismus und Konsumismus geprägte Gesellschaftsordnung, lebt ja förmlich davon, in ihren Mitgliedern Bedürfnisse und Wünsche zu erwecken, die sie ursprünglich gar nicht hatten, um sie dann gewinnbringend befriedigen zu können. Auch wird, psychologisch geschickt, unsere, oben genannte, tatsächlich vorhandene Sehnsucht in einer Weise angesprochen, die uns suggerieren soll, dass ein bestimmtes Produkt sie stillen könne. Doch mit dem Stillen ist es eben so eine Sache, denn einerseits beabsichtigt im Konsumismus kein Produzent, dass ein Bedürfnis wirklich endgültig befriedigt wird, noch ist unsere grundlegende Sehnsucht durch irgendein Produkt zu erfüllen. So jagen viele von uns der Befriedigung ihrer Sehnsucht in einer Weise nach, die nie zum Ziel führen kann und aus ökonomischen Gründen auch nicht darf. So verwandelt sich die Sehnsucht in ihr krankhaftes Gegenteil, nämlich der Sucht und wir drohen zu einem Volk von Junkies zu werden.

Dies und der damit einhergehende Verlust des spirituellen Begriffes einer Mitte sowie der darüber erfahrbaren Dimension der Tiefe unserer Herkunft, ließ uns vergessen wer wir ureigentlich sind, oder wie wir ureigentlich wirksam sein könnten. All dies machte uns zu jenen spirituellen, seelischen und geistigen Heimatlosen, denen man Fahrkarten in alle Richtungen verkaufen kann und die gerade dabei sind ihre eigene Lebensgrundlage zu zerstören.

 

Der Verlust der Mitte

Seitdem Menschen Feuer hüten und dann auch selber machen konnten, versammelten sich menschliche Gemeinschaften im Kreis um eine Mitte, in welcher ein wärmendes und Licht spendendes Feuer brannte. Diese Konstellation, mit dem Licht und der wärmenden Kraft in der Mitte, bildete eine als heilig empfundene Ordnung ab und wies den Menschen einen Platz in ihr zu. Niemandem wäre es fremd vorgekommen, wenn gesagt würde, dass die Quelle der Kraft in der Mitte liegt, oder dass sie als Symbol für das Licht spiritueller Erleuchtung gelten kann. Die Mitte war der alles zusammennehmende Punkt, auf den sich alle bezogen und bald schon wurde die Mitte zu einem Ausdruck und Symbol der Sonne und des Göttlichen. Am Feuer wurden Geschichten erzählt, über die die Lebens- und Welterfahrung vieler Generation an die nächste weitergegeben wurde, auch wichtige Rituale und Tänze fanden um diese Mitte herum statt, dem Zentrum menschlichen Lebens.

In den ersten Häusern und noch bis in die Neuzeit hinein war der Herd, oftmals einfach eine Feuerstelle auf fest gestampftem Boden in der Mitte des Raumes. Der Herd war der Mittelpunkt des Hauses, um den herum man sich zu den Mahlzeiten, für die häusliche Arbeit und weiterhin zum Geschichten erzählen oder Austausch wichtiger Informationen versammelte. In alten Aufzeichnungen über die Anzahl von Bewohnern einer Ortschaft, wurden die „Herde“ gezählt, also ein Herd, eine Großfamilie.

Nicht zufällig entwickelte sich das Wort „Herd“ später auch als Begriff für ein Zentrum, oder den Ausgangspunkt eines Vorgangs oder einer Entwicklung, wie etwa in den Worten „Krankheitsherd“ oder „Unruheherd“ deutlich wird. Das englische Wort für Herd, „Hearth“, enthält zugleich die Worte für Herz „Heart“ und Erde „Earth“. Der Herd als das Herz der Erde, le coeur, der Kern, die Mitte.

Dies alles blieb ein bedeutsames ordnendes Element, bis das Fernsehehen erfunden wurde, denn nun rückte der Fokus der Wahrnehmung von der heiligen Mitte weg und hin zur Peripherie, wo der Bildschirm stand. Die menschlichen Gemeinschaften saßen nun plötzlich nicht mehr im Kreis um einen Tisch oder um eine Feuerstelle, sondern in einer Hufeisenform. Mit dem Fern-Sehen begann, dass die Menschen das Nahe-Sehen verlernten, oder dem Nahe-Sehen müssen, entfliehen konnten.

War fernzusehen in meiner Kindheit noch ein echtes Familienereignis, streamt heute jeder/jede das eigene individuelle Programm. Heute findet man in Bus und Bahn, in Cafés usw. kaum noch Menschen, die sich miteinander unterhalten, selbst Familien sitzen schweigend beieinander, während sie alle, der Welt und dem Leben im Nahen entrückt, auf ihre eigenen kleinen Bildschirme starren.

Die Verschiebung des Fokus menschlicher Gemeinschaften weg von der heiligen Mitte und hin zur Peripherie, vom Nahe-Sehen zum Fernsehen, vom Kreis zum Hufeisen, ist bezeichnend für den allgemeingesellschaftlichen Verlust der Mitte und veranschaulicht metaphorisch eine ungute und unheilige gesellschaftliche Entwicklung, dessen Auswirkungen uns alle täglich und auf vielen Ebenen des Lebens betreffen.

Ein Volk von vereinzelten und dadurch in besonderem Maße bedürftigen Menschen mag für eine konsumistisch geprägte Marktwirtschaft ein Traum sein, doch im Sinne einer aus soziokultureller Sicht nachhaltig gesunden, ja überlebensfähigen Gesellschaft, ist dies ein Alptraum.

Nachdem wir in den vorhergehenden drei Jahrhunderten mit der Stille, unserem Wunsch nach einer modernen Lebensweise, eines der größten Opfer dargebracht haben, müssen wir jetzt den Verlust unserer Mitte beklagen und ohne Mitte wissen wir nicht wer wir sind.

Wir leben im säkularen Flachland einer Welt, die zumeist als Wirklichkeit nur anerkennt, was sich dem rational erkennenden Geist beugt. Die spirituelle Enteignung, die uns geschichtlich zuerst durch die Kirche und dann durch die, zugleich segensreiche, Aufklärung, widerfuhr, schnitt uns von dem uns zur Person bestimmenden transzendenten Wesen ab, das wir nur über unsere Mitte erfahren können und degradierte uns zu bloßen Schafen in einer Herde armer Sünderinnen.

Auch an ein solches Wesen nur zu glauben reicht nicht aus, denn ohne lebendigen Bezug zu unserer Mitte können wir weder wissen und fühlen wer wir wirklich sind, noch zu einer gesunden Person werden. So erleben wir einen Prozess des gesamtgesellschaftlichen Niedergangs, in dem wir immer mehr zu reinen Nutzmenschen und Konsumenten zu werden drohen, zu „human doings“, statt „human beings“, die nur mehr tuend da sind, aber nicht mehr sind.

……. Dies bedeutet einen Verlust, ja eine Veruntreuung der ihm (dem Menschen, Anm. d. Autors) zutiefst innewohnenden, ihn umgreifenden und vom Verstand nicht mehr fassbaren Wirklichkeit. Diese Veruntreuung muss der Mensch bitter bezahlen, denn die vom entwurzelten Menschen nur rational gegründete Werkwelt entwickelt sich nach eigenem Gesetz.

Und am Ende findet der Mensch, der da glaubte, im Heraustreten aus der geheiligten Ordnung frei und selbständig zu werden, sich als Gefangener der Apparatur wieder, die er für sein Freiwerden erfand.

Karlfried Graf Dürckheim aus Überweltliches Leben in der Welt: Der Sinn der Mündigkeit

 

Wollen wir uns erinnern, wer wir zutiefst sind und als diese einzigartige gesunde Person wieder wirksam erklingen, dann müssen wir uns auch unserer Mitte erinnern. Es geht darum uns im wahrsten Sinne des Wortes zu „erholen“, uns zurückzuholen, in die Ur-Laube unserer Mitte. Und wollen wir unsere Mitte behalten und pflegen, dann brauchen wir Modelle oder Metaphern die uns erklären, anweisen und erinnern, wie das geht.

Die kleine Jurte im Garten des Eschwege Instituts

Im Eschwege Institut wird die Bedeutung und Wirkweise von Kreis und Mitte täglich erlebbar in einer der vielen möglichen Formen zelebriert. So hat sich z.B. für die Gruppenzusammenkünfte, in der kleinen Jurte im Garten des Eschwege Instituts, über viele Jahre, ein immer gleiches Anfangszeremoniell entwickelt, das allen Beteiligten hilft, sehr schnell sehr wesentlich zu werden:

Als erstes tun wir etwas, was uns hilft, das Viele dessen, was sich davor in „der Welt der zehntausend Dinge“ ereignete und uns jetzt noch zerstreut, loslassen zu können, um so ganz in diesem kostbaren Augenblick ankommen zu können. So gehen alle für ein paar Minuten, allein für sich, auf dem Gelände spazieren, sagen bewusst „Hallo“ zu der Qualität des Landes, zu der Qualität des Moments in der Zeit und bedanken sich im Stillen bei all jenen, die es ihnen ermöglichen, jetzt hier zu sein. Es geht dabei darum, metaphorisch gesprochen, die unsichtbaren Fäden, die uns beständig aus dem Jetzt und Hier herauszuziehen vermögen, bewusst zu durchtrennen. Wenn wir uns dann, im Kreis, in der Jurte versammeln, folgt nochmal eine Möglichkeit, ganz bei sich anzukommen und sich zu zentrieren. Dazu wird entweder schweigend eine Räucherschale mit duftendem Salbei herumgereicht, mit dessen Rauch sich alle symbolisch noch letzten Reste von anhaftenden Alltags-Gedanken abwaschen können, oder schlicht mit einer kleinen Glocke, zu einer Minute der Stille eingeladen, bei der alle sich bewusst mit ihrem lebendigen atmenden Körper verbinden, der ja immer im Jetzt und Hier ist.

Wenn dann alle derart zentriert und bei sich angekommen sind, singen wir gemeinsam ein schönes Lied. Beim Singen müssen wir nicht mehr nur ganz bei uns sein und darauf achten, den richtigen Ton zu treffen und den Text richtig zu singen, sondern dies darüber hinaus auch mit dem Gesang aller anderen Anwesenden abstimmen. Dies führt dazu, dass sich alle aufeinander „einstimmen“, innerlich näher zueinander rücken und zu einem Kreis von voll präsenten und aufeinander bezogenen Menschen werden. Der Kreis wird sich seiner selbst bewusst und beginnt mehr zu sein als die Summe seiner Teile.

Der Blick wandert jetzt zur Mitte, die bei uns immer, um eine Kerze herum, wunderschön geschmückt ist. Erst jetzt sind Menschen und Raum bereitet diese Kerze dort in der Mitte zu entzünden, erst jetzt kann für alle, zumindest anfänglich, spürbar sein wofür sie symbolisch steht, nämlich für die Mitte der Mitten im All-Einen, die Natur der Naturen, die Quelle, der Ursprung, der Anfang von allem was ist, für den uns alle zusammennehmenden dritten Pol in der Mitte, der zugleich auch mitten in uns ist.

Es folgt ein Council zur weiteren Einstimmung. Der erste Council, als sicherer Ort für auch gefährliche Wahrheiten gestaltet und empfunden, hilft, die Herzen der Anwesenden zu öffnen. Die messbaren elektromagnetischen sog. Herzfelder um jeden einzelnen Menschen herum, weiten sich. Graphisch dargestellt und aus der Vogelperspektive gesehen weiten sich lauter konzentrische Kreise um die jeweiligen Menschen. Sie weiten sich immer weiter, bis ihre Linien sich in der Mitte des Versammlungskreises, dort wo die Kerze brennt, überschneiden und eine gemeinsame Schnittmenge bilden, eine geteilte Mitte. Spätestens ab diesem Moment erwacht das Bewusstsein für einen die ganze Gruppe zusammennehmenden Geist, der eben mehr ist als die Summe seiner Teile. Die Qualität der Kommunikation im Kreis verändert sich spürbar, denn seitdem sich eine „geteilte Mitte“ einstellte, können sich auch alle wahrhaftig „mitteilen“. Diese Art sich zu versammeln, ist eine Form praktizierter Spiritualität, die uns mit einfachen Mitteln an eine heilige Ordnung und unseren Platz darin erinnert sowie daran, was wirklich wesentlich ist.

In einer sog. Tiefenzeit-Übung, im Rahmen eines Seminars mit Joanna Macy, der Begründerin der Tiefenökologie, bzw. der „Arbeit die wieder verbindet“, sollte ich mir vorstellen einer meiner Nachfahrinnen, sieben Generationen in der Zukunft gegenüberzustehen. Sie fragte mich, wie es uns Menschen in meiner Zeit möglich gewesen ist, angesichts des fortschreitenden Klimawandels, des Artensterbens, der Dummheit politischer Entscheidungsträger/innen, der Umweltzerstörung und ähnlichen Katastrophen, nicht verrückt zu werden.

Meine Antwort darauf, die für mich bis heute gilt, war, dass wir regelmäßig im Kreis um eine sakrale Mitte sitzen und uns immer wieder gegenseitig daran erinnern, was wirklich wichtig im Leben ist. Dinge die wir zwar immer schon wussten, jedoch allein und angesichts eines mächtigen Alltags, aus den Augen verlieren würden. Was uns vor dem Verrückt-Werden bewahrt ist die Erinnerung daran, dass wir einander brauchen und dass wir eine Mitte haben, die uns alle zusammennimmt.

 

Text: Holger Heiten, Auszug aus seinem neuen Buchprojekt „Kreis und Mitte mitten in uns“

 

Essay: Die heilige Wunde