Zyklische Verlaufsmuster von Wandlungs-Prozessen mit Hilfe des Modells der „Vier Schilde“ verstehen

Die Vier Schilde, das grundlegende naturpsychologisch Entwicklungsmodell der Initiatischen Prozessbegleitung

Worum es dabei geht

Dieses von Verlaufsmustern in der Natur abgeleitete intrinsische Orientierungsmodell und diagnostische Instrument tieferen Selbst- und Fallverstehens dient der Veranschaulichung der Natur von Wandlungsprozessen und als Kompass von Handlungsanweisungen innerhalb einer ganzheitlichen Psychologie.

Das Modell der Vier Schilde zeichnet mit seinem zyklischen Verlauf die natürlichen Bewegungen nach, die sich in Entwicklungsprozessen aller Art vollziehen. Der Kreis als Symbol weist immer unwillkürlich auf seine Mitte hin. Erst wenn diese wieder – wie in diesem Modell – ihren Platz hat, kann sinnvoll von Balance und Prozesstiefe gesprochen werden sowie darüber, wie sich die im Kreis gegenüberliegenden Qualitäten aufeinander beziehen. Dieses Zurücklassen linear gedachter Prozessverläufe eröffnet eine neue Dimension des ganzheitlichen Prozessverstehens, weshalb die Vier Schilde in der Arbeit der IP, für die Prozessanalyse sowie die Prozessplanung und Gestaltung grundlegend sind.

 

Woher kommt das naturpsychologische Entwicklungsmodell?

Dieses Modell wurde in den 1980er Jahren von den Psychologen Steven Foster und Meredith Little aus Rudimenten eines Lebensrad-Modells der Northern Cheyenne sowie ähnlichen Modellen aus Europa, Nordafrika und Asien entwickelt und von ihnen 1998 als „The Four Shields: The Initiatory Seasons of Human Nature“ publiziert.

Kein Tier-Verhaltensforscher würde auf die Idee kommen, sein Studienobjekt im Käfig zu beobachten, denn er wüsste, dass sich das Tier nur in seiner natürlichen Umgebung auch natürlich verhalten würde. Ebenso sei es mit der herkömmlichen Psychologie des Menschen, so Foster und Little. Diese sei häufig eine Psychologie mit dem Focus auf Pathologien von „incaged“, also eingesperrten und vereinzelten Menschen, losgelöst von ihrem natürlichen Umfeld. Das Modell der Vier Schilde bietet alternativ eine ressourcenorientierte “Erd- oder Natur-basierte Psychologie” an, in der uns die Natur darin unterweist, wie wir Mensch sind. Wenn wir unsere Vier Schilde zusammenwirkend zur Verfügung haben, arbeiten sie wie ein Immunsystem, das uns darin unterstützt, mit dem beständigen Wandel des Lebens angemessen und nachhaltig umzugehen.

 

Zyklische Verlaufsmuster

Augenfällig bei der Betrachtung der entsprechenden Graphik ist das Symbol eines Kreuzes mit einem Kreis darum. Das Kreuz gliedert den Kreis, einem Kompass gleich, in vier Bereiche, die für die Himmelsrichtungen stehen. Dieses Symbol gehört zu den ältesten der menschlichen Kulturgeschichte in der gesamten nördlichen Hemisphäre und geht zurück auf eine Zeit, als Menschen begannen, sich die Welt und die Gesetzmäßigkeiten des Lebens zu erklären.

Es ist daher naheliegend, mit der Erklärung dieses Modells bei der Lebens- und Welterfahrung jener frühen Menschen zu beginnen. Diese orientierten sich in der Landschaft mit Hilfe natürlicher Phänomene wie dem Lauf der Sonne und der Gestirne.

Die Sonne markiert mit ihrem Sonnenaufgangspunkt im Osten, ihrem mittäglichen Höchststand im Süden und ihrem Sonnenuntergangspunkt im Westen täglich drei der vier Himmelsrichtungen. Darauf ist ebenso Verlass wie auf den Nord- oder Polarstern, der sich in sternenklarer Nacht als vierter Orientierungspunkt zeigt. Wenn am Morgen die Sonne wieder aufgeht, so hat sich der zyklische Durchlauf durch die Himmelsrichtungen geschlossen und beginnt wieder neu.

Auf solche natürlichen Prinzipien bezieht sich das Symbol des Kreuzes mit dem Kreis darum: Ein sich wiederholender zyklischer Prozess, der vier kardinale Stationen durchläuft, die sich im Kreis genau gegenüberliegen und die wir deutlich voneinander unterscheiden können.

Dieses Prinzip war und ist auch in anderen natürlichen und für das Leben relevanten Bereichen zu beobachten wie in den vier Jahreszeiten. Es galt, harte Winter zu überleben, wofür ausreichend Vorräte angelegt werden mussten. Man zählte sein Alter nicht nach Jahren, sondern nach überlebten Wintern. Den Lauf der Jahreszeiten im Lebensrhythmus außer Acht zu lassen, war einfach unmöglich.

Indem wir jetzt die Jahreszeiten auf die Himmelsrichtungen im Modell übertragen, beginnen wir die damit verbundenen Assoziationsketten zu verlängern: Wenn wir uns den Stand der Sonne zur Mittagszeit im Süden, wenn sie ihre größte Strahlkraft entwickelt, angenehme Wärme und helles Licht spendet, vorstellen, dann erscheint es naheliegend, damit die Jahreszeit des Sommers zu assoziieren.

Ebenso leicht ist die untergehende Sonne im Westen mit dem Herbst zu verbinden, wenn es kühl wird und man sich in das warme Innere einer Behausung zurückzieht.

Die kalte Nacht des Nordens, die ruhend im Bett verbracht wird, erinnert an den Winter.

Der Osten, da wo die Sonne endlich wiederkehrt und einem mit ihren ersten Strahlen die kalten Glieder wärmt, lässt sofort den Frühling in den Sinn steigen, der das Leben und die Kraft zurückbringt.

Nach jedem Frühling folgte (und folgt) ein neuer Sommer und so vollzog sich vor den Augen der frühen Menschen auch in einem jährlichen Zeitraum jener zyklische Prozess, der sich fortlaufend wiederholte und der die vier kardinalen Stationen durchlief, die die Menschen deutlich voneinander unterscheiden konnten.

Von da aus war es kein allzu großer Schritt zur Erkenntnis, dass es nicht nur vier Jahreszeiten im Laufe eines Jahres gab, sondern auch so etwas wie die Jahreszeiten im Laufe eines menschlichen Lebens.

 

Die Tore des Übergangs

Um die Übergänge von einer Lebensphase in die andere zu veranschaulichen, stellen wir uns ab hier als zusätzliches Element Tore vor, durch die man dafür gehen muss.

Beginnen wir mit dem Tor der Geburt, das zwischen dem Osten und dem Süden steht. Von dort treten wir in die erste prozesshafte Lebensphase, die Kindheit, ein, die daher mit dem Süden, dem Mittag und dem Sommer assoziiert ist.

Die darauffolgende Lebensphase umfasst die Pubertät sowie Adoleszenz und sie ist mit dem Westen, dem Abend und dem Herbst verknüpft.

Sind wir einmal durch das nächste Tor zwischen dem Westen und dem Norden hindurch gekommen, so treten wir in die Lebensphase des Erwachsenseins ein, eine Phase, die mit dem Norden, der Nacht und dem Winter verbunden ist.

Mit dem nächsten Tor, dem Tor des Todes, verlassen wir den Kreislauf des Lebens wieder und betreten einen mysteriösen Bereich, den wir alle durch dieses Tor betreten und den wir anfangs durch das Tor der Geburt verließen.

Die frühen Menschen konnten also auch im Verlauf ihres Lebens jenen zyklischen Prozess erkennen, der die vier kardinalen Stationen, die sich deutlich voneinander unterscheiden ließen, durchlief. Alle Entwicklungsprozesse in der Natur verlaufen zyklisch und es gab bis zum Beginn der Moderne keinen Zweifel daran, dass auch wir Menschen Natur sind.

 

Zuordnung von Qualitäten zu den Vier Schilden

Alles im erfahrbaren Kosmos lässt sich letztlich einer der vier kardinalen Bereiche im Modell zuordnen, weshalb sie ab hier als die vier kardinalen Qualitäten bezeichnet werden sollen.

Die Süden-Qualität

Dem Süden ist der Körper und alles Körperliche in uns zugeordnet. Dem Beginn des Entwicklungszyklus werden auch die ältesten Teile unseres Gehirns, das Stammhirn und das limbische System, zugeordnet, die u. a. für alles Instinkthafte, für unsere Triebe und Emotionen zuständig sind. Der Bereich der Sexualität, der körperlich sinnlichen Erfahrung, auch der Archetyp des Liebhabers gehören somit ebenso zum Süden wie die nichtsexuelle Sinnlichkeit und der Genuss. Das auch als Reptiliengehirn bezeichnete Stammhirn ist zudem mit lebenswichtigen Notfallstrategien wie Fliehen, Erstarren oder Kämpfen beschäftigt.

Wichtige Fragen des Südens sind deshalb: „Bin ich hier sicher?“ und „Gibt es hier genügend Nahrung für mich?“

Entwicklungspsychologisch muss im Süden die Frage der Zugehörigkeit geklärt werden. Das „Ich“, sein Wohlbefinden und sein Überleben sind große Themen des Südens.

Dies weist auch auf die Möglichkeit des Kampfes hin, weshalb Krieg, Mord und Totschlag sowie andere Arten von Aggression im Süden anzusiedeln sind.

Weitere Zuordnungen lassen sich allein von den genannten Qualitäten wie Kindheit und Sommer ableiten: die Zeit vergessen, Unschuld, Lust, Wut, Körpersäfte, Blut, Unbeschwertheit, Spiel.

Alles Leben im Sommer ist damit beschäftigt, sich Nahrung einzuverleiben und zu wachsen. Kinder tun dies auch im übertragenen Sinne, indem sie all das in sich aufnehmen, was sie in dieser Zeit erfahren. Sowohl die guten als auch die traumatischen Erfahrungen gehen zunächst in das Kind hinein wie in einen Magen, der noch nicht verdaut: Alles, was die Eltern sagen und tun, was die Schule, der Pfarrer und Youtube ihnen erzählen oder ihnen antun, die schönen Geburtstagsfeiern ebenso wie die häusliche Gewalt und der sexuelle Übergriff. So geht es, bis wir das nächste Tor erreichen, das in die Pubertät führt.

Die Westen-Qualität

Nachdem im Süden alles nur in sich aufgenommen wurde, muss dies jetzt verarbeitet werden. Dieser Vorgang gleicht dem beim Getreide, das im Sommer auf den Feldern wächst und im Herbst gedroschen wird, um die Spreu vom Weizen zu trennen.

Eine weitere treffliche Metapher für den Wandlungsprozess der jetzt folgenden Pubertät ist die vom Werdegang eines Schmetterlings, der in seiner Zeit der Süden-Qualität als Raupe immer nur in sich hineinfraß und davon fett wurde. Jetzt im Herbst sucht die Raupe sich einen geschützten Ort, um sich zu verpuppen. Genau wie bei einem pubertierenden Menschen findet im Inneren des sich bildenden Kokons ein erstaunlicher Wandlungsprozess statt. Bei dem geht es nicht um einen metamorphen Umbau, sondern zunächst vielmehr um eine Auflösung.

Bis auf das Herz als einzige Konstante zerrinnt die bisherige Form in eine lebende flüssige Masse, die nur von der Haut des Kokons zusammengehalten wird, bis sich daraus ein neues geflügeltes Wesen entwickelt hat. Der geschlüpfte Schmetterling bereitet sich dann darauf vor, sich ein neues Element zugänglich zu machen, nämlich die Luft, die der Norden-Qualität zugeordnet ist.

Auch während der Pubertät gibt es Phasen der inneren Auflösung, während der wir uns konturlos, formlos und wie ein Niemand fühlen. Auch wir benötigen dann eine Art Kokon, um diesen Prozess zu schützen. Nichts wäre uns peinlicher, als dass wir in dieser Verfassung gesehen würden.

Aus Scham entwickeln wir individuelle Strategien, wie wir mit dieser tiefen Verunsicherung umgehen können, die oft eine Art „Kokon-Funktion“ haben und mit denen man sich andere Menschen vom Leibe halten kann. Das Bad wird abgeschlossen, Betreten-verboten-Schilder an die Zimmertür gehängt, Masken der Coolness, der Aggression, des genervt-Seins, der Überheblichkeit – Strategien, die später zum Teil noch mit ins Erwachsensein übernommen werden.

Im Westen geht es somit ums Verdauen und Verarbeiten. Deshalb ist dem Westen auf körperlicher Ebene der Verdauungstrakt zugeordnet. Verdauen bedeutet im Prinzip, dass eine Nahrung zunächst in kleinste Teile zerkaut werden muss, um im Verdauungstrakt daraufhin überprüft werden zu können, ob diese als Energie, Mineralien o. ä. assimiliert werden können oder als unbrauchbarer Ballast wieder ausgeschieden werden sollen. Im übertragenen Sinne gilt hier, dass unzerkaut heruntergeschluckte Brocken (z. B. politische Meinungen) wie Fremdkörper schwer im Magen liegen und schwerlich ein Teil von uns werden können.

Prüfen und entscheiden, was authentisch zu uns gehört und was ausgeschieden werden soll, sind Tätigkeiten des Westens, die im Innen geschehen, weshalb eine der Überschriften des Westens auch „Introspektion“ (Innenschau) heißt. Nachdem wir im Süden die Meinungen, Standpunkte und Handlungsweisen unserer Eltern und Vorbilder in uns aufgenommen haben, stellen wir dies im Westen zunächst mal in Frage, zerlegen alles in seine Bestandteile und erarbeiten uns unseren eigenen Standpunkt im Leben, unsere Art, die Dinge zu sehen, zu tun oder zu lassen. Deshalb sind große Fragen des Westens „Wer bin ich?“, „Was ist meine Gabe und welche Aufgabe resultiert daraus?“

Somit steht der Westen qualitativ für alle „Häutungs-Prozesse“, die sich im Leben in kleineren und größeren Schüben wiederholen. Im Mittelpunkt steht dabei dieselbe nur leicht abgewandelte Frage, die uns lebenslang begleitet, nämlich „Wer bin ich jetzt (bzw. nicht mehr) und was ist demnach jetzt meine Aufgabe?“ Mit der Zeit wird nach jedem größeren Durchgang auch die Frage: „Wer sind jetzt meine Leute?“, dazukommen. Dieser Prozess ist fast immer mit der unangenehmen Herausforderung verbunden, all das, was wir nach durchlebten Wachstumsprozessen nicht mehr sind, wie eine zu eng gewordene Haut abzustreifen.

Der Westen ist so etwas wie der Friedhof jener Mythen und Selbstbilder, die wir uns über uns erzählt und von uns gemacht haben, um uns uns selbst zu erklären.

Dabei fällt es uns leichter, einen alten Halt loszulassen, wenn unsere andere Hand schon neuen gefunden hat. Übergangsprozesse fordern uns jedoch häufig damit heraus, komplett loslassen zu müssen, bevor es neuen Halt gibt. Sie sind somit der Ort, an dem wir Phasen von Angst, Orientierungs- und Haltlosigkeit ertragen müssen, bis wir die tiefere Wahrheit über uns, die unter der alten Haut zum Vorschein gekommen ist, erkennen können.

Hier ist daher das Einsatzgebiet der Übergangsrituale, die dabei helfen, auf Kraft entfaltende Weise durch solche Phasen hindurch zu gehen. Der Westen steht dabei nicht nur für derartige Herausforderungen, sondern auch für unsere innere Haltung, mit der wir ihnen begegnen. Deshalb wird ihm der Archetypus des*der „Kriegers*Kriegerin“ zugeordnet.

Der Westen als Lebensphase der Pubertät ist auch körperlich der Ort des Wandels. Hormonelle Ausschüttungen sorgen dafür, dass sich der kindliche Körper verändert und ihm jetzt Schamhaare und andere sekundäre Geschlechtsmerkmale wachsen. Auf neurobiologischer Ebene kommt es zu radikalen Umbaumaßnahmen mit all ihren bekannten Auswirkungen auf das Verhalten. Das sexuelle Leben erwacht und wir entdecken das „Du“ in der Liebe.

Die Assoziationskette im Westen kann demnach um Aspekte wie Sterben, Angst, Verunsicherung, Schutzbedürftigkeit, Orientierungs- und Haltlosigkeit, Prüfen, Kokon, Haltung, Krieger*in, Suche nach Authentizität und Identität, Metamorphose, zeitweise Konturlosigkeit, Scham, Abgrenzung und Abweisung, sich bewähren und messen wollen, Initiation, über den Tellerrand schauen, Weltoffenheit, Streben nach Glück und Abenteuerlust erweitert werden.

Die Norden-Qualität

Charakteristisch für den Winter ist, dass er die Menschen zwingt, ihr Leben vorausschauend zu planen und zu strukturieren, um z. B. genügend Lebensmittelüberschüsse zu erzeugen. So wird gewährleistet, dass nicht nur sie, sondern auch die Kinder, die mit sich selbst beschäftigten Jugendlichen und auch die Alten, die nicht mehr arbeiten können, die Zeit des Winters überleben. Als Erwachsene in einer hoch komplexen modernen Gesellschaft werden wir heute unserer Führsorgepflicht und Verantwortung für die ganze Gemeinschaft gerecht, indem wir die sie haltenden Strukturen über Steuerzahlungen finanzieren.

Deshalb sind einige der großen Überschriften des Nordens: Struktur, vorausschauendes Planen und Handeln sowie Verantwortung über sich selbst hinaus – für die Gemeinschaft.

Alles, was die Struktur von etwas ausmacht, kann der Qualität des Nordens zugeordnet werden: Ein Stundenplan, eine Jobbeschreibung, aber auch ganz physisch das Knochengerüst unseres Körpers.

Kombinieren wir Struktur mit der Verantwortung für die Gemeinschaft gehören auch alle Regelwerke, die erschaffen wurden, um diese zu schützen, zusammenzuhalten oder zu organisieren, dem Norden an. Dazu zählen die Straßenverkehrsordnung und das Bürgerliche Gesetzbuch genauso wie die Bibel und der Koran.

Aus diesen Regelwerken und Verordnungen resultieren wiederum Pflichten, weshalb, neben der Pflicht selbst, auch das Bewusstsein dafür, weshalb wir Pflichten einhalten sollten, dem Norden zugeordnet wird. Nur wirklich Erwachsene sind letztlich im Stande Dinge zu tun, zu denen sie sich verpflichtet fühlen, obwohl sie gerade keine Lust dazu haben.

Im Reifeprozess des Menschen erreichen wir im Norden den Höhepunkt unserer Souveränität über unser eigenes Leben. Wir können selbst über unser Handeln bestimmen, unsere eigenen Entscheidungen treffen und müssen für alle Konsequenzen, die sich daraus ergeben, geradestehen. Deshalb befindet sich im Norden auch der Archetyp des*der Königs*Königin.

So die Geschichte oft schwache oder tyrannische Könige kennt, so sind diese Ausformungen auch bei der Ausübung der Souveränität über unser eigenes Leben zu beobachten. Es ist schwer, ein*e gute*r und weise*r König*in zu sein. So kommt es einerseits nicht selten zu einer Vernachlässigung oder andererseits zu einem Übermaß an Ordnung und Verordnungen. Letzteres bringt den Wunsch nach Kontrolle und Allmacht zum Ausdruck.

Das Unplanbare, Unvorhersehbare und Unberechenbare ist dem Norden ein Graus. Deshalb sind ihm neben der Kontrolle auch das strategische Denken zugeordnet. Im Sozialen kann sich „wahrhafte Selbständigkeit“ zeigen, wenn wir unsere Wahrheit auch dann vertreten können, wenn alle anderen es anders sehen oder wenn wir, um unserer Wahrheit treu zu bleiben, etwas entscheiden, dass andere Menschen verletzt oder gegen uns einnimmt.

Die Osten-Qualität

Wie zum Ausgleich sehen die Qualitäten des Ostens völlig anders aus. Der Osten, den wir durch das Tor des Todes erreichen, steht gewissermaßen für die Aufhebung oder Auflösung der Form. So wie sich nach dem Tod unsere physische Form auflöst, so lösen sich in der Qualität des Ostens weitere Strukturen auf, die im Prozessverlauf eine Art kleiner Tod ereilt.

Um der naheliegenden Versuchung zu widerstehen, hier Inhalte aus den religiösen Lehren der Welt zuzuordnen, verwenden wir für den Osten die respektvolle Bezeichnung „großes Mysterium“, die es einem erlaubt, eigene Glaubensvorstellungen einzusetzen, ohne damit die Schlüssigkeit des Modells aufzuheben.

Spiritualität im Allgemeinen als Versuch, mit dem großen Mysterium des Ostens umgehen zu können, beschäftigt sich immer schon mit den Fragen, wie und woher wir eigentlich kommen und wohin wir gehen. Spiritualität war deshalb auch immer das Pflegen einer Zugehörigkeit zu einer höheren Ordnung und einer Haltung, die dieses „Überweltliche“, wie Graf Dürckheim, deutscher Psychotherapeut und Zen-Lehrer des letzten Jahrhunderts, es ausdrückte, „in der Welt bezeugen“ könnte.

Da diese höhere Ordnung dem großen Mysterium angehört und somit nicht vorhersehbar, festlegbar oder berechenbar ist, kam und kommt es nicht selten vor, dass es zu Reibungen und Widersprüchen zwischen Religion und Spiritualität kommt.

Religionen bzw. religiöse Lehren sind als Regelwerke dem Norden zugeordnet und die spirituelle Haltung oder die spirituelle Praxis dem Osten. Es gab immer schon religiöse Menschen, die keinen Zugang zur Spiritualität mehr hatten und sich dann umso verzweifelter an ihre Regelwerke klammerten. Genauso gab und gibt es Spirituelle, die sich in den Regelwerken ihrer Religion nicht mehr wiederfinden konnten und können.

Regelwerke, die zur Ausübung von Kontrolle und Macht eingesetzt werden, lassen immer den Rückschluss auf einen Mangel an Vertrauen zu; je weniger Vertrauen, desto mehr Regeln und Verordnungen; je mehr Vertrauen, desto weniger Regeln und Verordnungen.

Deshalb sind wesentliche Aspekte des Ostens: Loslassen, Vertrauen, sich einer höheren Ordnung anvertrauen, Etwas, das größer ist als man selbst, Spiritualität, Emergenz, das Unplanbare, Unvorhersehbare und Unberechenbare, das Numinose.

Daran angelehnt sind weitere Zuordnungen wie Kreativität, Inspiration, Eingebung oder Einfälle. Sie alle setzen voraus, dass wir zunächst loslassen können. Kreativität kann nicht mit einem Rechenschieber berechnet oder für einen bestimmten Augenblick geplant werden, wir müssen gelassen und gelöst dafür sein und bekommen sie dann geschenkt – oder aber auch nicht. Die Worte „Eingebung“ und „Einfall“ weisen buchstäblich darauf hin. Es kommt etwas von außen in mich hinein. Das ist nur möglich, wenn ich die Kontrolle und die Geschlossenheit meines Systems losgelassen habe, wenn ich offen für die Eingebung bin. Inspiration ist das französische Wort für „Einatmen“, was ebenfalls darauf deutet, dass etwas von außen in mich hineinkommt. Die Qualität des Ostens steht wie der Tod und die Geburt für das Einlassen auf das Unbekannte und Unkontrollierbare, für das Nichtwissen, den unplanbaren Faktor, der so manchen guten Plan durchkreuzt.

Eine Osten-Qualität in der Natur ist die gestorbene Pflanze mit ihrem Samen in Keimruhe, aus dem im Frühling neues Leben geboren wird. Die Säfte der Bäume, die sich tief nach innen zurückgezogen hatten, steigen im Frühling wieder auf und neue Kraft tritt in die Welt. Auch dieses Innehalten, das Sammeln, Vertiefen, Versenken, um dann gesammelt, erneuert und gestärkt wieder hervorzukommen, sind Aspekte des Ostens.

Loslassen-können, zumal in einer Leistungsgesellschaft mit immer schnellerer Taktung, ist eine Kunst. Einschlafstörungen, mit anderen Worten, sich dem kleinen Bruder des Todes, wie der Volksmund den Schlaf nennt, nicht anheimstellen zu können, sind nur eines der häufiger werdenden Symptome von Nicht-loslassen-können. Burn-out, Magersucht, Workaholismus sind andere.

Die Osten-Qualität hält über die verschiedenen spirituellen Lehren hinweg in zahlloser Form das Versprechen bereit, dass ich alles habe, dass bereits alles vorhanden ist, was ich brauche. Eine Herausforderung für einen Geist, der im Bereich der Norden-Qualität glaubt, das Leben durch effektive Strukturen, kluge Organisation und fleißige Arbeit meistern zu müssen.

 

Das Tor der Initiation

Wir alle werden durch das Tor des Todes gehen, unabhängig davon, ob wir gut darauf vorbereitet sind oder nicht. Ebenso ist es mit dem Tor der Geburt, wir alle sind einst dort hindurch gegangen. Auch der Eintritt in die Pubertät scheint ein solcher natürlicher Vorgang zu sein, für den wir weder vorbereitet noch besonders geeignet sein müssen.

Ganz anders sieht es beim verbleibenden Tor vom Westen in den Norden aus, durch das wir gehen müssen, um vollständig selbstverantwortliche und für unsere Gemeinschaft wertvolle Erwachsene zu werden. Zwar wird unser Körper irgendwann auf ganz unvermeidliche Weise erwachsen, auf dieselbe Entwicklung im sozialen und psychologischen Bereich trifft dies jedoch nicht zu. Psychologisches und soziales Erwachsenwerden ist keine Selbstverständlichkeit und kein unvermeidlicher natürlicher Vorgang. Vielmehr bleiben in unseren westlichen Gesellschaften immer häufiger Menschen vor diesem Tor stehen.

Dies wäre wohl auch zu früheren Zeiten so gewesen, hätte nicht schon immer ein vitales Interesse daran bestanden, dass junge Menschen jenes Tor zum Erwachsenwerden erfolgreich durchschreiten. Keine Gemeinschaft, auch keine heutige, kann sich lange erlauben, dass zu wenige in den Stand des Erwachsenseins nachrücken. Deshalb wurden in allen Völkern der Welt Übergangsriten erschaffen, die dies gewährleisteten. Sie gehören bis heute zu den größten, sozialen und kulturellen Errungenschaften menschlicher Gemeinschaften.

 

Fünf werden und die Floß-Metapher

Haben wir bisher eine Aufeinanderfolge der vier Richtungsqualitäten im zyklischen Prozessverlauf betrachtet, so stellen wir uns jetzt vor, wir stünden idealer Weise in der Mitte des Rades, dort, wo sich die beiden Linien kreuzen und uns alle vier kardinalen Qualitäten jederzeit zur Verfügung stehen. Aus dieser Perspektive laufen in uns selbst zyklische Prozesse ab. Diese schreiten manchmal langsam über einen langen Zeitraum voran, wie unser Leben, manchmal aber auch in Sekundenschnelle, kurze Prozesse, in denen wir unsere individuell ausgeprägten Vier Schilde, unsere Weise mit der Welt zu interagieren, durchlaufen.

Stell dir vor, auf dem Weg zu deiner Arbeit zu sein. Völlig unerwartet gelangst Du an einen Unfallschauplatz und zwar als erster, direkt nachdem sich das Unglück ereignet hat.

Du siehst eine Person auf der Straße liegen, die aus klaffenden Wunden blutet. Deine erste Reaktion wäre sehr wahrscheinlich ziemlich stammhirnartig und somit von der Qualität des Südens: Deine Notfallprogramme werden aktiviert und du musst zwischen fliehen, dich stellen oder vor Schreck erstarren entscheiden. Ekel und Abscheu vor dem blutigen Geschehen erzeugen unmittelbare körperliche Reaktionen, die einem Kind einen Schrei entlocken würden.

So du an dieser Stelle nicht hängen bleibst, kommt üblicherweise als nächstes eine Phase des Prüfens, somit eine typisch westliche Qualität. Du fragst dich, ob du überhaupt die geeignete Person bist, hier zu helfen oder ob du dich überhaupt noch korrekt an die Erste Hilfe Maßnahmen erinnern kannst.

Auch dies ist eine Phase, in der manche im inneren zyklischen Prozessverlauf in einer Art Selbstverhinderung, Selbstzweifel oder erlernter Hilflosigkeit hängen bleiben können. Doch hoffen wir für das Wohl des Unfallopfers weiter, dass dich alles Prüfen letztlich dazu bringt, in irgendeine Handlung zu kommen. Das könnte das Absetzen eines telefonischen Notrufes, das Sichern der Unfallstelle oder ähnliches sein. Du beginnst zu handeln und dein Handeln zu strukturieren, was eine typisch nördliche Qualität ist.

So tust Du, was du kannst, bis Polizei und Krankenwagen eintreffen und sich ein Verantwortlicher nach einer Weile bei dir bedankt und sagt, dass man dich jetzt nicht mehr braucht und Du gehen kannst. Auch in diesem Prozessstadium ist denkbar, dass Du von dem zwanghaften Gedanken getrieben bist, die Situation trotzdem mithalten zu müssen. Eine gesunde Reaktion wäre jedoch für die meisten, sich hinzusetzen und zu spüren, wie im Loslassen der Verantwortung und des strukturierten Handelns, einer Osten-Qualität, all die Gefühle in mir aufsteigen dürfen, die ich, um in der Norden-Qualität agieren zu können, unterdrückt hatte.

Vielleicht fangen deine Knie an zu zittern und der ganze durch die schreckliche Szene verursachte Schock bricht sich jetzt in Weinen und Schluchzen Bahn. All dies wären schon wieder Aspekte des Körperbewusstseins der Süden-Qualität. Nachdem sich deine körperlichen Reaktionen wieder beruhigt haben, landest Du vielleicht wieder im Westen, dein Handeln noch mal Revue passieren lassend und dich fragend, ob Du alles richtig gemacht hast oder es hättest besser machen können. Ein denkbarer Schritt in deinen Norden wäre daraufhin zu beschließen, nochmal einen 1. Hilfe Kurs zu belegen usw.

Wir brauchen unsere vier Richtungs-Qualitäten, um uns innerlich beweglich und gesund durch unsere Lebenssituationen zu bewegen. Jemanden, der nicht beim Unfallopfer anhält, sondern erst einen Kilometer weiter stehenbleibt, um ein Gedicht über die Szene zu schreiben, würden wir sicher als ziemlich schrägen Vogel empfinden. So zeigt sich, dass wir uns im Normalfall immer wieder durch jenen zyklischen Prozess bewegen, der jene vier kardinalen Qualitäten durchläuft.

Um dem Modell der Vier Schilde jetzt mehr Bildhaftigkeit zu geben, stellen wir uns ein Floß auf dem Wasser vor. Darauf stehen wir, es ist nur für eine Person bestimmt. Der einzige Ort einer guten Balance ist die Mitte des Floßes, da der Aufenthalt am Rande zwangsläufig eine Schlagseite auslöst. Im wahrsten Sinne des Wortes ist das Streben nach Gleichgewicht in der Mitte ein höchst „natürlicher“ Vorgang. Alles in der Natur strebt nach Balance. Im Falle eines Ungleichgewichtes gilt es, wieder in Balance zu kommen. Die Mitte des Floßes ist der ideale Ort für den Thron des*der Königs*Königin, von wo aus er*sie die vier Provinzen oder Völker des König*innenreiches im Blick hat. Die Balance zu halten, ist die perfekte Metapher für die königliche Regierungstätigkeit, denn bei ihr handelt es sich nicht um einen Zustand, der erreicht werden kann, sondern um die lebendige Tätigkeit, ein dynamisches Gleichgewicht zu behalten. Wie beim Fahrradfahren sind ständige kleine Ausgleichsbewegungen nötig. Die Natur und also auch wir vollführen daher ständig oft kaum merkliche Bewegungen, um im Gleichgewicht zu bleiben. Fallen wir einmal deutlich aus der Balance, drückt sich das dann als eine spürbare Krise aus.

Viele von uns neigen als erwachsene und berufstätige Menschen heutzutage dazu, ein Übergewicht auf das strukturierte Handeln – auf eine Norden-Qualität – zu legen. In unserem Bild bekommen wir diesbezüglich im Norden nasse Füße, während die gegenüberliegende Seite des Floßes – die Süden-Qualität – aus dem Wasser ragt. Dies kann damit zu tun haben, dass wir immer weniger Gewicht auf die Belange des Süden-Schildes gelegt haben. Dazu gehören ausreichender Schlaf, Pausen, einfach mal wie ein Kind die Zeit vergessen, gesundes Essen, Zeit für Sinnlichkeit und Sexualität, dem Körper etwas Gutes tun oder sich im Spiel verlieren. Im Gegenteil scheinen wir durch die schneller werdende Taktung der Welt unseren Fokus auf noch mehr Verpflichtungen, Termine und Projekte zu legen, wodurch wir in unserer inneren Beweglichkeit im Norden zu stagnieren drohen. Wenn wir uns diese Schlagseite bildlich vorstellen und uns fragen, wie wir wieder ins Gleichgewicht kommen können, dann liegt es nahe, entsprechend mehr Gewicht auf den gegenüberliegenden Süden legen zu müssen. Das Problem ist jedoch, dass so etwas in der Logik eines zyklisch verlaufenden Prozesses nicht möglich ist. Erinnern wir uns an die Zuordnung der Jahreszeiten, so käme ein solcher Schritt dem direkten Wechsel vom Winter in den Sommer oder von Mitternacht zum Mittag gleich, ohne den dazwischenliegenden Frühling bzw. den Morgen zu durchschreiten. In einem zyklisch verlaufenden Prozess müssen wir uns, um unser Gleichgewicht wiederherzustellen, immer durch die dazwischenliegende Qualität bewegen. In diesem Beispiel ist das der Osten mit seiner Qualität „Loslassen“. Das ist nachvollziehbar. Ich muss erst von meinen Verpflichtungen, meinem Stress sowie meinem Wunsch, alles im Griff zu haben, loslassen, um wieder frei zu werden für die Qualitäten des Südens. Erst dann kann ich wirklich das Liegen in der Hängematte genießen und tun, was ich zum Ausgleich brauche. Damit ist dann nicht nur das Gleichgewicht auf unserem Floß wiederhergestellt, sondern auch die innere Stagnation im Norden beendet.

In einem Schild zu stagnieren, heißt auch, im zyklischen Verlauf der normalerweise ständigen persönlichen Weiterentwicklung hängen zu bleiben. Wenn wir, wie im genannten Beispiel, das Loslassen ermöglichen und innerlich wieder in Bewegung nach Süden und weiter nach Westen und wieder nach Norden kommen, geraten auch andere inneren Prozesse wieder in Bewegung. Wir befinden uns in einem zyklischen und als lebendig empfundenen Lebensprozess, im Fluss des Lebens.

Es zeigt sich, dass wir den zyklischen Verlauf eines inneren Wachstumsprozesses nicht „machen“ können, ihn dagegen sehr wohl ausbremsen können. Situationen, die z. B. mit Krise, zeitweiser Verunsicherung, Tod, Angst, Kontrollverlust und Zweifel zu tun haben, gelten in unserer leistungsorientierten Kultur als störend und sind unerwünscht. Deshalb werden diese im zyklischen Verlauf von Wachstumsprozessen notwendigen Themen häufig verneint, verschwiegen oder verdrängt. Dieses Ausblenden gehört zu den Zutaten, aus denen Dauerkrisen gemacht sind.

Die zyklische Bewegung innerer Wachstumsprozesse wird ihrer Natur nach immer erst dann wieder in Gang kommen, wenn wir bereit sind, voll und ganz anzuerkennen, dass wir genau an dem Punkt im Leben stehen, an dem wir uns eben befinden, so schmerzhaft das auch sein mag.

Darüber hinaus sind wir als komplexe Wesen so vielschichtig, dass wir durchaus in unserem Berufsleben unsere Vier Schilde in Balance halten können, in unserem Liebesleben jedoch in einem der Schilde stagnieren.

Die Floß-Metapher veranschaulicht, wie unser Modell zum einen geeignet ist, eine Situation diagnostisch einzuschätzen und zum anderen, wie daraus erste Handlungsanweisungen abgeleitet werden können.

 

Prozessverläufe und Themen aufs Rad legen

Mit dem bisher Gesagten lassen sich auch Themen oder Begriffe wie die Liebe auf dem Lebensrad einordnen. So ist die Liebe im Süden bzw. in der Entwicklungsphase des Kindes eher „Ich“-bezogen.

Als Jugendliche oder Adoleszente entdecken wir im Westen das „Du“ in der Liebe und dies oft erstmals außerhalb des bekannten Familienkreises.

Im Norden als vollständig selbstverantwortliche Erwachsene begegnen wir dem „Wir“ in der Liebe und übernehmen über die Verantwortung für uns selbst hinaus auch die für die Gemeinschaft.

Als Älteste oder lebenserfahrene Alte entdecken wir im Osten die Liebe zur Allverbundenheit, zum Mysterium, das uns alle zusammennimmt und sich durch uns verkörpert.

Genauso können wir mit dem „Werdegang“ einer Idee vorgehen. Eine Idee ist so etwas wie ein Geistesblitz, eine Eingebung oder ein Einfall, weshalb der Werdegang der Idee im Osten beginnt.

Im Süden freuen wir uns wie ein Kind über sie und erleben eine körperliche Sensation der Freude und Vorfreude.

Im Westen wird die Idee dann auf ihre Durchführbarkeit hin überprüft. Es wird gemessen, ob alles passt, gezählt, ob das Geld dafür reicht. Es werden Aspekte fallen gelassen oder hinzugenommen und am Ende steht ein lebbarer realistischer Plan.

Im Norden schreiten wir zur Tat und verwirklichen die Idee in die Welt hinein. Bei der Durchführung kommt es vielleicht zu neuen, verbessernden Ideen. Jetzt geht der Prozess wieder von vorne los …

Auch alle nur denkbaren Prozessverläufe lassen sich mit Hilfe der bereits genannten Zuordnungen sinnvoll auf das zyklische Verlaufsmuster der Vier Schilde übertragen. Anders gesagt werden geplante Prozessverläufe sinnvoll und gelingend, wenn sie den Prozessschritten des Lebensrades folgen. Als Beispiel für einen auf die Vier Schilde übertragbaren Prozessverlauf sei folgend in groben Zügen der Prozess persönlichen Wachstums dargestellt.

Süden

Wir sind in der Welt und erklingen in unserer momentan möglichen Weise. Als Resonanz darauf erleben oder erfahren wir Dinge und sie widerfahren uns.

Westen

Wir können uns fragen, wozu und wieso uns diese Dinge widerfahren und warum wir sie so erleben und erfahren. Anders gesagt können wir fragen, welcher Klang in uns dafür sorgt, dass uns als Resonanz auf ihn jene Dinge widerfahren, wir sie so erleben und erfahren. Sollten wir mit etwas unzufrieden sein, können wir uns als Überleitung zum Norden folgend die Frage stellen, was in uns oder unserem Leben eingerichtet oder losgelassen werden müsste, um die gewünschte Änderung zu ermöglichen.

Norden

Wir richten Strukturen zur Verbesserung oder Erhaltung ein oder bauen unzuträglich gewordene ab. Wir kümmern uns um die im Süden verletzten oder traumatisierten Anteile. Wir erwarten nicht mehr, dass uns gegeben wird, sondern sind selbst in der Lage, uns und Anderen zu geben.

Osten

Wir können auf die Resonanz des Universums achten, um zu sehen, wie unser Handeln sich auswirkt und um Lösungen oder Eingebungen bezüglich der Dinge bitten, die wir im Westen nicht verstehen und im Norden nicht ändern konnten. Der Zustand des Nichtwissens kann zugelassen werden und wird mit Inspiration und Intuition zur Quelle der inneren Führung.

Süden

Wir sind in der Welt und erklingen in unserer momentan möglichen Weise. Als Resonanz darauf erleben oder erfahren wir Dinge und sie widerfahren uns.

 

Die Vier Schilde und die Mitte

Aus dem gesamten Bild des Kreises und zyklischer Abläufe ergibt sich eine Art natürliche Perspektive auf das, was in vielen spirituellen Lehren, der Dichtung und philosophischen Weltbildern als die Mitte bezeichnet wird. Keine andere geometrische Form weist so sehr auf ihre Mitte hin wie der Kreis, bei dem jeder Punkt gleich weit von ihr entfernt ist.

Wie bei der Floß-Metapher deutlich wurde, stellt in diesem Modell das Vorhandensein einer Mitte einen maßgeblichen Bezug zu den vier kardinalen Qualitäten her. Die Balance oder Ausgewogenheit zwischen diesen Qualitäten kann nur in dieser Mitte erreicht werden, weshalb ideale oder gesunde Zustände letztlich nur über sie beschrieben werden können. So wird die Spiritualität in diesem Modell zwar dem Osten zugeordnet, würde sie dort jedoch gelebt werden, hätten wir es mit einem Übergewicht im Osten und so mit einer ungesunden, unausgewogenen, weltflüchtigen und wahrscheinlich körperfeindlichen Spiritualität zu tun, die durch eine Unterrepräsentanz der Norden-Qualität maßlos und dominierend wäre.

Es ist ein Problem der abstrahierenden Norden-Qualität, dass wir uns die Struktur dieses Modells nur graphisch geordnet und auseinandergesetzt vorstellen können und wir uns nur so das Zusammenwirken der Qualitäten veranschaulichen können. Dies erschwert es, uns beständig daran zu erinnern, dass die dargestellten Qualitäten in der lebendigen Wirklichkeit immer alle präsent und ineinander verwoben sind. Die Vier Schilde sind letztlich nur eine Landkarte und nicht das Terrain selbst, sie sind der Versuch hochkomplexe psychologische Abläufe in vereinfachter Form zu veranschaulichen.

Gesund und ausgeglichen fühlen wir uns nur, wenn wir uns möglichst nahe an unserer Mitte befinden. Eine gesunde und nachhaltig gesund erhaltende Lebensführung schließt unsere körperlichen Bedürfnisse und die besonders über den Körper erfahrbare Präsenz in der Welt (Süden-Qualität) ebenso ein wie die Auseinandersetzung mit und das Wachsen an unseren inneren Schattenaspekten, Häutungsprozessen, Ängsten und Unsicherheiten (Westen-Qualität). Sie akzeptiert und wertschätzt das Maßgebende und Strukturierende der Norden-Qualität und ist gleichzeitig offen und voller Vertrauen dem großen, unplanbaren Mysterium der Osten-Qualität gegenüber, das als Quelle von Emergenz und Inspiration erlebt wird sowie als etwas, das größer ist als man selbst und uns alle mit allem verbindet.

Auszug aus dem Buch „Chance und Trance“ von Holger Heiten, bitte nicht unautorisiert weiterverwenden.